Fahrbericht: McLaren 720S
Für McLaren beginnt mit dem 720S ein neues Zeitalter. Erstmals ersetzen die Briten ein Modell ihres erfolgreichen Markentrios. Der 720S stellt 650S und 675LT gleichermaßen in den Schatten und zeigt selbst Lamborghini und Ferrari, dass die besten Sportwagen nicht aus Italien kommen
- Stefan Grundhoff
McLaren hat eine beachtlich steile Karriere gemacht. Die Firma aus dem britischen Woking ist erst seit sieben Jahren als eigenständiger Sportwagenhersteller auf dem Markt und bereits vor seinem Marktstart wird der neue McLaren 720S als Messgröße für einen Sportwagen gesehen. Seit der Weltpremiere auf dem Genfer Salon Anfang März wurden bereits mehr als 1500 Fahrzeuge verkauft – ohne eine einzige Probefahrt, wohlgemerkt. Vorher war McLaren als technischer –Entwicklungsdienstleister gefragt, unter anderem von BMW beim F1 oder von Daimler beim Mercedes SLR.
Das Entwicklungsteam um Ben Gulliver hat viel Arbeit in das neue Super-Series-Topmodell gesteckt. „Mehr als 91 Prozent des Fahrzeugs sind komplett neu entwickelt”, sagt Gulliver, „über 40 Prozent des Motors sind neu, unter anderem die Turbolader, die jetzt schneller ansprechen.” Der doppelt aufgeladene V8 wurde von 3,8 auf vier Liter Hubraum erweitert. Im Vergleich zum 650S stieg die Leistung auf 720 PS, das Drehmoment auf 770 Nm bei 5500/min. Von 0 auf 100 km/h spurtet der Wagen damit in 2,9 Sekunden, auf Tempo 200 in 7,8 Sekunden. Das Doppelkupplungsgetriebe von Graziano erreicht nicht den Komfort der Schaltungen von Ferrari, BMW, Porsche oder Lamborghini. Seine Abstimmung ist komprimisslos der höchsten erreichbaren Dynamik untergeordnet und wechselt die Gänge daher äußerst ruppig.
Fahrbericht: McLaren 720S (16 Bilder)

Kräftige Bremse für schnelle Rundenzeiten
Dank gewissenhafter Feinarbeit an der Aerodynamik konnten die Ingenieure der Anpressdruck gegenüber dem 650S von 2013 um 30 Prozent verbessern. Auf der Rennstrecke ist die dadurch weiter gesteigerte Traktion spürbar. Noch spektakulärer als die atemberaubende Beschleunigung bleibt das stoisch ruhige Einlenkverhalten und eine Bremse, die weder Verzögerungsgrenzen noch Fading zu kennen scheint. Nicht nur die vier Räder werden über mächtige Karbon-Keramikscheiben verzögert, bei einem Tritt auf die Bremse reckt sich auch der Heckspoiler steil in die Höhe und hilft über den Luftwiderstand mit. Gleichzeitig bringt er beim Bremsen mehr Ruhe in die Karosserie. Aus Tempo 100 steht der Renner in knapp 30 Metern, aus 200 reichen kurze 117 Meter.
Der mindestens 247.250 Euro teure McLaren überzeugt keinesfalls nur auf der Rennstrecke. Der gut 1,4 Tonnen wiegende Sportwagen trotzt mit seinem schwerelosen Einlenkverhalten, dem drehfreudigen V8 scheinbar der Physik. Was für 650S oder 675LT galt, ist auch eine Paradedisziplin des neuesten McLaren 720S: Mit dem Supersportler mit einer Höchstgeschwindigkeit von 341 km/h und spektakulären Verzögerungswerten könnte man jeden Tag problemlos ins Büro fahren. Im Vergleich zu seinem Vorgänger bietet der 720S dank kuppelartig ausgeführter Glaselemente an hinteren Säulen, Rückscheibe und Türen eine deutlich bessere Rundumsicht. Die beiden optionalen gläsernen Dachfenster dagegen nerven mehr als sie bringen. Schließlich verbessert auch weiterhin auf Wunsch ein Lift in der Vorderachse auf Knopfdruck den Rampenwinkel und ermöglicht so die Zufahrt über steile Garagenzufahrten oder andere Verkehrshindernisse, über die sich sonst niemand Gedanken macht.
Überflüssig finden wir dagegen das animierte Cockpit, die umständlichen Drehschalter für Motor und Fahrwerk oder die Tücken des Bediensystems mit seinem modernen Hochkant-Multifunktionsbildschirm und mäßiger Ablesbarkeit bei Sonneneinstrahlung. (imp)