Harvard-Professor verteidigt in Filesharing-Fall [Update]

In einem der zahlreichen Urheberrechtsverfahren erhält ein von der Musikindustrie verklagter US-Student prominente Unterstützung: Harvard-Professor Charles Nesson übernimmt die Verteidigung und stellt die Verfassungsmäßigkeit der Klage in Frage.

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Was ist eigentlich mit Harvard? Von der breit angelegten Klage-Kampagne der US-Musikindustrie gegen filesharende Studenten blieb die Eliteuni bisher weitgehend verschont. Das mag daran liegen, dass zwei Harvard-Professoren zu den schärfsten Kritikern des Industrieverbands Recording Industry Associaton of America (RIAA) gehören. Die Juristen Charles Nesson und John Palfrey hatten den RIAA-Anwälten im vergangenen Jahr ein beherztes "Verzieht euch!" zugerufen. Jetzt wird Nesson vom Kritiker zum Kämpfer: Der Jura-Prof übernimmt zusammen mit seinen Studenten in einem Bostoner Filesharing-Fall die Verteidigung des Beklagten.

Nesson engagiert sich im Verfahren des Musikriesen Sony BMG gegen Joel Tenenbaum, der sich bisher mit Hilfe seiner Mutter, einer erfahrenen Copyright-Anwältin, selbst verteidigt hatte. In dem seit September 2003 anhängigen Verfahren – zunächst gegen Unbekannt und seit 2007 gegen Tenenbaum – wirft das Label dem heute 24-Jährigen vor, mit der Verteilung von sieben Songs über ein Filesharing-Netzwerk die Urheberrechte des Unternehmens verletzt zu haben. Die Kläger fordern gesetzlichen Schadensersatz, der laut US-Copyright von 750 US-Dollar bis zu 150.000 US-Dollar pro Verletzung betragen kann. Im schlimmsten Fall – einer Verurteilung wegen gewerblicher Urheberrechtsverletzung – droht Tenenbaum also eine Gesamtstrafe von mehr als einer Million US-Dollar.

Diese immense Summe spielt auch in der Argumentation Nessons eine Rolle, der die Anti-Filesharing-Kampagne der RIAA nun grundsätzlich hinterfragt. Nesson und sein Team fordern in ihrem Gegenantrag einen regulären Prozess, der dem Beklagten eine Stellungnahme zu den Vorwürfen ermöglicht, sowie eine Erstattung der bisher entstandenen Unkosten. Darüber hinaus werfen sie der RIAA den Missbrauch von Gesetzen und der Justiz vor. Die Harvard-Juristen stellen die Frage der Verfassungsmäßigkeit: Der geforderte gesetzliche Schadensersatz sei unverhältnismäßig und verstoße damit gegen durch die Verfassung garantierte rechtsstaatliche Prinzipien sowie das Verbot überzogener Strafen.

Darüber hinaus sei das den Forderungen zugrundeliegende Gesetz gegen "digitalen Diebstahl" (Digital Theft Deterrence and Copyright Damages Improvement Act) ein im Grunde strafrechtliches Instrument. Der Gesetzgeber habe damit das staatliche Verfolgungsprivileg für Strafsachen an den Privatsektor abgetreten und so die von der Verfassung festgelegte Gewaltenteilung untergraben. Darüber hinaus verstoße die zivilrechtliche Verfolgung einer Strafsache gegen die Verfassung, weil so dem Beklagten seine im Rahmen der Strafprozessordnung garantierten Rechte vorenthalten würden.

Der prominente Jurist, der schon in richtungsweisenden Fällen vor den US Supreme Court aufgetreten ist, wird in der 21 Seiten starken Begründung (PDF-Datei) seines Antrags gegenüber der RIAA ziemlich deutlich. In den zahlreichen Verfahren wegen mutmaßlicher Urheberrechtsverletzungen gehe es der Musikindustrie nicht um Schadensersatz für ein paar Songs, sondern um übergeordnete Ziele: Das klagende Label und die RIAA, die Nesson in seinem Gegenantrag offiziell als Beklagte genannt sehen will, wollten eine "fürchterliche urbane Legende" schaffen, um Kinder und Eltern zu verunsichern und damit "die Strömung der digitalen Zukunft" umzukehren.

Im bisher einzigen Fall, in dem ein Filesharing-Verfahren tatsächlich zur Verhandlung kam, hatten Geschworene eine US-Bürgerin für die Verbreitung von 24 Songs zu einer Gesamtstrafe von 222.000 US-Dollar verurteilt. Der vorsitzende Richter hatte das Urteil nach einem Rechtsfehler im Prozess allerdings wieder kassiert und die Neuverhandlung angeordnet. Der Termin für eine neue Verhandlung steht noch aus. [Update: Inzwischen hat Richter Michael Davis den neuen Prozesstermin für den 9. März 2009 angesetzt.] Auch im Verfahren gegen Tenenbaum geht es weiter. Für Dezember ist eine erster Prozesstermin angesetzt. Sollte sich Nesson durchsetzen können, dürfte ein interessantes Verfahren zu erwarten sein. (vbr)