Filesharing-Prozess nach 222.000-Dollar-Urteil vor der Wiederaufnahme

Rückschlag für die US-Musiklobby: Nach dem spektakulären 222.000-Dollar-Urteil im Filesharing-Prozess gegen Jammie Thomas könnte der Fall neu aufgerollt werden. Der Richter räumte einen "offensichtlichen Fehler" ein.

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Das war keine gute Woche für die US-Musiklobby. Erst soll der US-Verband Recording Industry Association of America (RIAA) die Anwaltskosten einer wegen angeblichen Filesharings verklagten Amerikanerin übernehmen. Jetzt droht der gut geölten Klagemaschine des Verbandes ein schwerer Schaden: In dem bisher einzigen Filesharing-Fall, der es bis zur Verhandlung und einer spektakulären Verurteilung gebracht hatte, räumte der Richter nun einen "offensichtlichen Fehler" ein und stellte einen neuen Prozess in Aussicht.

In dem weltweit beachteten Prozess war Jammie Thomas wegen Urheberrechtsverletzung in 24 Fällen von den Geschworenen zu einer Geldstrafe und Schadensersatz von 222.000 US-Dollar verurteilt worden. Thomas und ihr Anwalt gingen in Berufung. Sie halten die Entscheidung der Jury für unangemessen und beantragten eine Korrektur oder die Wiederaufnahme des Verfahrens. Richter Michael Davis erwägt nun, den Fall neu zu verhandeln, allerdings aus einem ganz anderen Grund: Er habe die Geschworenen offenbar falsch instruiert.

Dabei geht es um die Kernthese der Musikindustrie, dass die Bereithaltung von Musikstücken über ein P2P-Programm an sich schon eine Urheberrechtsverletzung ist. Davis hatte die Jury in seinen Anweisungen zur Urteilsfindung unter Punkt 15 in diesem Sinne unterrichtet. Die Gegner dieser "Making Available"-Theorie hatten die Anweisung des Richters während des Prozesses scharf kritisiert. Für eine Urheberrechtsverletzung müsse die tatsächliche Weitergabe einer Kopie nachgewiesen werden, argumentieren die RIAA-Gegner. In der US-Rechtsprechung gebe es einschlägige Präzedenzentscheidungen zu dieser Frage.

Eine solche Entscheidung hat Richter Davis in der Zwischenzeit offenbar zur Kenntnis genommen. Seine Anweisung Nummer 15 sei ein "offensichtlicher Rechtsfehler", räumt der Jurist in seiner Begründung (PDF-Datei) ein, und könnte bindender Rechtssprechung in einem Präzedenzfall des gleichen Gerichtsbezirks widersprechen. Im Streit des Softwareherstellers Computer Associates (CA) gegen einen Autoverleiher hatte das Gericht festgestellt, dass für eine Urheberrechtsverletzung die "tatsächliche Verbreitung einer Kopie" nachgewiesen werden müsse.

Darüber hinaus nahm Davis die Entwicklung in einem weiteren Filesharing-Fall (Atlantic vs. Howell) zur Kenntnis, in der Richterkollege Neil Wake sein ursprüngliches Urteil revidiert und schließlich von der "Making Available"-Theorie abgerückt war. Davis forderte die Prozessbeteiligten nun zur schriftlichen Stellungnahme auf und ermutigte sie auch, weitere Expertenmeinungen einzuholen. Am 1. Juli will er den Fall dann erneut mit den Beteiligten diskutieren. RIAA-Anwalt Richard Gabriel wird dann wohl nicht mehr vor Gericht erscheinen, er tritt an diesem Tag seinen neuen Job als Richter am Berufungsgericht des US-Bundesstaats Colorado an.

Ganz raus ist Gabriel aus dem Fall aber noch nicht. Der New Yorker Rechtsanwalt Ray Beckerman, der selbst einige Klienten gegen die RIAA vertritt, wundert sich, dass keiner der beteiligten Anwälte dem Gericht die Präzedenz zur Kenntnis gebracht hat. Während das einerseits Zweifel an der Strategie von Thomas' Anwalt Brian Toder nährt, dürfte Gabriel andererseits als einer der leitenden RIAA-Anwälte aus zahlreichen anderen Verfahren über die Entscheidung im Bilde gewesen sein. Er könne also gegen die Standesregeln verstoßen haben, die Anwälte verpflichten, das Gericht über eventuell maßgebliche Entscheidungen in Kenntnis zu setzen, vermutet Beckerman.

Für Jammie Thomas steigen damit die Chancen auf ein neues Verfahren. Aus dem Schneider ist sie damit allerdings noch nicht. Denn die RIAA hatte in dem Verfahren stichhaltige Indizien vorgelegt, die nach Meinung von Beobachtern auch in einem neuen Prozess für eine Verurteilung reichen könnten. Eine RIAA-Sprecherin wertete Richter Davis' Entscheidung gegenüber Wired als "technisches Detail", das nichts an den "überzeugenden Fakten und Beweisen" des Falles ändere.

Doch könnte sich ein neues Verfahren durchaus als Sand im Getriebe der RIAA-Klagekampagne erweisen. Wie schon Richterkollegen vor ihm stellt Davis die zentrale Argumentation der Musikindustrie in Frage. Darin sieht die RIAA eher kein Problem; ihre Anwälte waren zuletzt mehrfach von diesem Ansatz abgerückt. Schließlich könne man den Download von Musikstücken durch die Ermittler von Media Sentry nachweisen. Auch Richter Wakes Entscheidung in Atlantic vs. Howell sei in diese Richtung zu lesen, meinen Beobachter. Vor Gericht allerdings wesentlich ist, den nachweisbaren Download dann der beklagten Person zuzuordnen. Das wird mit den von Media Sentry vorgelegten Beweisen nicht immer leicht sein.

Bis es bindende Präzedenzentscheidungen gibt, wird es vor Gericht also noch einiges Hin und Her geben. Ein Urteil des Supreme Court gibt es zu der Fragestellung noch nicht. Wie auch immer sich die Präzedenz auf dem spannenden juristischen Neuland namens Filesharing entwickelt: Bis zu einer endgültigen Entscheidung kann die Musikindustrie nicht mehr stolz auf das 222.000-Dollar-Urteil gegen einen Filesharer verweisen. Zumindest an der PR-Front ist das eine bittere Niederlage. (vbr)