Lenke ab und herrsche: Zensur und Propaganda in China

Seite 2: Kritik bleibt stehen, Aufrufe nicht

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Insgesamt aber sei die Prüfung gegen Listen mit unerwünschten Begriffen viel zu unzuverlässig, auch weil chinesische Nutzer diese kreativ umgehen, etwa indem sie Schriftzeichen für Begriffe verwenden, die so ausgesprochen werden wie die Verbotenen. Leser erkennen den Sinn, die Algorithmen finden nichts zum Sperren. Deswegen müssen Einträge von Menschen gelesen werden, die dann über eine Sperrung entscheiden. Um die Arbeit dieser Zensoren zu überprüfen, hat King mit einer nicht näher erläuterten Technik Social-Media-Einträge in mehr als 1400 verschiedenen sozialen Netzwerken direkt nach ihrer Veröffentlichung abgegriffen und nachträglich überprüft, ob sie online blieben. Da die Schlagwort-Listen keine zufriedenstellenden Ergebnisse lieferten und auch vor allem von staatlichen Betreibern eingesetzt wurden, wollte er so herausfinden, nach welchen Kriterien die Menschen sperren. Das Ergebnis widerspricht dem verbreiteten Bild von den Zielen der Zensur deutlich.

Wie King schon 2013 bilanzierte, zeigte seine Untersuchung, dass es den Zensoren nicht darum geht, Kritik am Staat oder der Staatsführung zu löschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass negative Einträge oder sogar beißende Kritik am Staat, den politischen Führern oder der Politik gelöscht werden, sei nicht höher als es bei regierungsfreundlichen Beiträgen der Fall sei. Die einzige Ausnahme nehmen die Zensoren offenbar für sich selbst in Anspruch: Kritik an ihrer Arbeit wird rigoros gelöscht. Der Führung in Peking aber geht es offenbar nicht darum, Kritik zu unterdrücken. Stattdessen würden vor allem Einträge gelöscht, die das Potenzial haben, kollektive Aktionen auszulösen, selbst wenn die der Unterstützung des Staates dienen würden. Menschen sollen sich nicht organisieren, egal zu welchem Zweck.

Mit Beispielen belegen King und sein Team diese überraschende Erkenntnis: So blieb der Eintrag eines Bloggers online, der zur Ein-Kind-Politik schrieb: "Menschen mussten bereits 30 Jahre leiden." Ein anderer schrieb über den lokalen Stadtrat, "diese Beamten laufen Amok, eine Stadtführung ohne Gerechtigkeit", ohne dass das gelöscht worden sei. Im Gegensatz dazu wurden im Jahr 2011 Einträge nach Bombenanschlägen auf Regierungsgebäude gelöscht, selbst wenn darin die Motive des Attentäters zurückgewiesen und die Behörden verteidigt wurden. Hier sah die Führung offenbar die Gefahr, dass Menschen sich organisierten, unabhängig davon, ob das zur Unterstützung der Führung und des Staats geschehen wäre.

Die Maskottchen der "Internetpolizei"

(Bild: Rory Finneren, CC BY 2.0 )

Zusätzlich zu den Zensoren direkt bei den Unternehmen gibt es laut King aber noch mehrere Zehntausend sogenannte Internetpolizisten – mit eigenem Maskottchen – und Zehn- wenn nicht Hunderttausende Mitglieder der "50 Cent Party". Letztere sind nicht für Zensur, sondern für staatlich gewünschte Beiträge in sozialen Netzen verantwortlich und bekommen dafür angeblich jeweils 50 Cent des Renminbi (rund 7 Eurocent). Diese Beschreibung galt lange als gegeben und wurde von Akademikern und Journalisten gleichermaßen verbreitet, chinesische Internetnutzer beschuldigten sich sogar gegenseitig, zur "50 Cent Party" zu gehören. Erst dank eines umfangreichen Leaks und einer langwierigen Analyse konnte King dieses Bild nicht nur korrigieren, sondern einen weiteren Schwerpunkt der chinesischen Agenda offenlegen.

Geleakte E-Mails des Amts für Internetpropaganda eines chinesischen Distrikts erlaubten den Forschern einen Blick hinter die Kulissen. King und seine Kollegen werteten sie nicht nur akribisch aus, sondern nutzten sie geschickt, um daraus die Situation im ganzen Land zu extrapolieren. Denn dank des Materials hatten sie herausgefunden, dass die "50 Cent Party" nicht aus billigen Hilfsarbeitern bestand, sondern in ihrer übergroßen Mehrheit aus Staatsbediensteten. Für Einträge in sozialen Netzwerken, in denen sie beispielsweise die Volksrepublik lobten, Regierungsprojekte bewarben oder Propaganda verbreiteten, wurden sie demnach nicht extra bezahlt. Stattdessen ist dieses Auftreten in sozialen Netzwerken offenbar Teil ihres Jobs und wird zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit verrichtet.

Anders als gemeinhin gedacht und vor allem auch von chinesischen Internetnutzern immer wieder angenommen, engagieren sich die Propagandisten der "50 Cent Party" auch nicht in politischen Debatten im Netz. Kontroverse Themen werden vermieden und stattdessen unverfängliche Inhalte verbreitet. Insgesamt kommen so rund 450 Millionen von der Regierung gewünschte Einträge zusammen, haben die Forscher errechnet. Die Hälfte davon auf staatlichen Plattformen, der Rest auf privaten. Die verteilen sich aber nicht gleichmäßig übers Jahr. Stattdessen werden die Staatsbediensteten immer besonders aktiv, wenn es darum geht von Themen abzulenken. Besonderes Interesse gilt demnach hier wieder jenen Themen, aus denen kollektive Handlungen entstehen könnten.