Missing Link: Amazon im Fluss - das Einkaufsreich im Netz, die Internet-Namen und das kulturelle Erbe

Seite 3: Machtprobe

Inhaltsverzeichnis

Amazon fühlt sich nach der Entscheidung des ICANN-Vorstands im Mai offensichtlich fast am Ziel seines jahrelangen Kampfes um .amazon. Weitere Erklärungen gegenüber der Presse hält man aktuell offenbar für nicht notwendig. Insgesamt gab sich das Unternehmen zuletzt stets schmallippig, wenn es um Nachfragen ging – gleich ob nach seinen Plänen für die TLD, oder nach seinen Reaktionen auf die Empörung der lateinamerikanischen und auch mancher europäischen Regierung. Über das Statement hinaus, dass man ICANNs positive Entscheidung für die Zuteilung begrüße und die Bedenken der Länder im Amazonas-Gebiet sehr ernst nehme, wolle man nichts sagen. "Amazon steht bereit, mit diesen Regierungen über die von uns vorgeschlagenen Selbstverpflichtungen zum Schutz von Kultur und Erbe der Völker der Amazonas-Region zu sprechen, während wir zugleich mit der Top-Level-Domain unsere weltweit anerkannte Marke unterstützen, um unsere Kundschaft zu überraschen und zu erfreuen", lautet das von einer Sprecherin an heise online übermittelte Statement.

Sich nicht in die Karten schauen zu lassen gehört durchaus zum Geschäft der großen Plattformen – und neuer TLD-Bewerber. Unbemerkt geblieben ist so bis heute etwa das Detail, dass Amazon in den USA offiziell noch nicht Amazon hieß, als sie die TLD .amazon beantragt haben. Vielmehr firmierte das Unternehmen bis März 2012 laut Stones Buch als Amazon.com. Vielleicht hat man deshalb auch die Europäische Tochter in Luxemburg als Bewerber vorgeschoben, die bereits unter Amazon EU Sarl auftrat. Im Arsenal der Markenanmeldungen hatte man amazon allerdings schon mit eingetragen.

Achilles Emilio Zaluar Neto, Vertreter des brasilianischen Außenministeriums im Regierungsbeirat der ICANN, war noch bis zuletzt zuversichtlich, dass eine Verhandlungslösung nicht unmöglich ist. "Meiner Meinung nach hätten wir die Differenzen, die zwischen den Selbstverpflichtungen des Unternehmens und den ACTO-Vorschlägen bestehen, weiter verringern sollen", teilte der Botschafter gegenüber heise online mit. Eine solche Verhandlungslösung stand auf dem Programm, nachdem die ICANN durch einen Schiedsspruch 2017 gezwungen worden war, das Delegationsverfahren wieder aufzunehmen.

Sonnenuntergang am Amazonas

(Bild: Emerson Glauber / shutterstock.com)

Den Stop hatten die ACTO-Länder 2013 über einen einstimmigen Einspruch des Regierungsbeirats erwirkt. In den Nachfolgebeschlüssen beschränkte sich der Regierungsbeirat auf eine Aufforderung zur Kompromisslösung. Amazon sollte .amazon auf der Basis eines für die Firma und die ACTO-Staaten akzeptablen Lösung erhalten. In Marrakesch warben die ACTO-Staaten bei ihren Regierungskollegen darum, diesen Beschluss zu bekräftigen. Doch die US-Delegation verhinderte das fast im Alleingang. Laut dem Marrakesch-Kommuniqué des Regierungsbeirats muss der ICANN-Vorstand nur noch einmal erklären, in wieweit er den Kompromiss beider Seiten realisiert sieht.

Gefordert hatte ACTO im Prinzip eine gemeinschaftliche Verwaltung von .amazon, oder doch eine Art Aufsicht über Delegationen unter .amazon durch ein Komitee, in dem Firma und Länder vertreten sind. Geboten hatte Amazon Kindles für Millionen von Nutzern in den acht Staaten und den Betrieb alternativer TLDs mit geographischen Namen in der Region.

Wie es nun weitergeht? Zaluar hält sich bedeckt, was mögliche juristische Schritte anbelangt, sollte die Zuteilung erfolgen. Kolumbiens Vertreter im ICANN-Regierungsbeirat GAC dagegen hat bereits angekündigt, man werde rechtliche Schritte ergreifen, die Presse bemühen und um die öffentliche Meinung kämpfen.

Kurz vor dem Treffen in Marrakesch vergangene Woche hatte Kolumbien auch das erste von zwei möglichen Schiedsverfahren in Gang gesetzt, um den Beschluss des ICANN-Vorstands überprüfen zu lassen. Im ersten Schritt wird intern untersucht, ob alle Regeln eingehalten wurden. Schritt zwei ist ein externes Schiedsverfahren. Noch ist Amazon aber nicht am Ziel. Kalkuliert das Unternehmen nach dem langen Kampf die Kosten ein, die ihm durch den von Kolumbien angedrohten Ansehensverlust möglicherweise drohen? Der US-Sportausrüster Patagonia hat das wohl getan und seine Bewerbung um .patagonia vor Jahren zurückgezogen. "Relentless.com" ficht das offenbar nicht an.

Man hege keinen Groll gegen Amazon, sagt Diplomat Zaluar. "Sie haben ihre Interessen vertreten, so wie sie sie sehen." Den Grund für das Debakel sieht er an anderer Stelle: "Für den Zusammenbruch der Verhandlungen ist das aktuelle System der Internet-Selbstregulierung verantwortlich, das versagt hat." Öffentliche Interessen würden nicht ausreichend gewürdigt, marginalisierte Gruppen nicht berücksichtigt. Stattdessen hätten die Megaplattformen wie Amazon enorm an Einfluss und Macht gewonnen. Sie kauften Start-Ups und verhinderten, damit, dass ihnen aus Innovation mehr Wettbewerb erwächst. Seine Hoffnung sei, dass am Ende alle Regierungen das Ungleichgewicht erkennen würden. Wenn der Regierungsbeirat bei der ICANN nicht reformiert und ermächtigt würde, in kontroversen Fragen gemeinsame Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, habe künftig eine Allianz von Technokratie und Megaplattformen ganz allein das Sagen. (jk)