Missing Link: Die digitale Agenda von EU-Spitzenkandidaten

Seite 3: Fake News vs. Meinungsfreiheit

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Eine große Unbekannte in den Ausblicken auf den Urnengang in einem Monat sind noch eventuelle Auswirkungen von Desinformationskampagnen und Cyberangriffen in der heißen Wahlkampfphase. "Wir müssen guten Journalismus stärken und bessere Arbeitsbedingungen schaffen" für Medienarbeiter, machte Demirel als bestes Mittel gegen "Fake News" aus. Die Medienkompetenz sollte auch stärker im Schulalltag eingebaut werden. Der Wahlwettstreit selbst müsse "hart, aber fair ablaufen". Wichtig sei es, die Beteiligung der gut 500 Millionen EU-Bürger zu erhöhen.

Die Generalsekretäre der großen Parteien hätten sich bereits abgesprochen, wie sie den Kampf um die Stimmen der Europäer im Netz fair gestalten wollten, ließ Beer durchblicken. Politik und Gesellschaft müssten aber aufpassen und "gemeinsam wehrhaft sein", wenn "von außen Einfluss genommen wird". Die Kontrolle über Falschnachrichten dürfe zudem nicht im Stile des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes privaten Plattformen überlassen werden. Schließlich fielen selbst "erfundene Sachverhalte" unter die Meinungsfreiheit.

Für Giegold hat die Erfahrung mit dem Brexit gezeigt, "dass mächtige Interessensgruppen existieren". Dabei handle es sich gar nicht immer um politische Kräfte. Teils spekulierten Kriminelle auch schlicht auf Währungsbewegungen. Alternativlos sei es für alle Beteiligten einschließlich der AfD, vollständig transparent zu machen, wann von wem welches Geld in der Politik eingesetzt werde. Die Debatte über Fake News werde teils genutzt, um gegen unliebsame Kritik und das Bekanntwerden von Missständen vorzugehen, gab Breyer zu bedenken. Es dürfe kein Wahrheitsministerium geben. Bentele hätte sich dagegen eine "stärkere Kommunikationsstrategie" der Kommission gewünscht, um dem wilden Gerüchteraum schärfer entgegentreten zu können.

Die Brüsseler Regierungsinstitution hat Facebook, Google und Twitter gerade ein besseres Zeugnis ausgestellt im Kampf gegen Desinformation und gefälschte Konten als zwei Monate zuvor. "Die Plattformen – und ganz besonders Facebook – machen sehr viel Pressewirksames, doch wenn irgendwelche Probleme aufkommen, ziehen sie nicht unbedingt auch wirklich alles bis zum Ende durch", moniert dagegen Axel Bruns, Medien- und Kommunikationsforscher an der australischen Queensland University of Technology in Brisbane. Als Beispiel führt er die Facebook-Anzeigenbibliothek an, mit der sichtbar werden soll, welche Werbung auf der Plattform wie geschaltet wird.

Die Datenbank sei zwar manuell durchsuchbar, aber für die Wissenschaft nicht sonderlich nützlich, beklagt Bruns. Man könne damit gerade nicht in großem Stil erfassen, wie Banner eingespielt würden. Vor allem zeigten die Kalifornier nicht an, welche speziellen Nutzergruppen damit "angegriffen", also welche demografischen Faktoren etwa eingestellt werden. Die Transparenzinitiative müsse daher noch deutlich ausgeweitet werden.

"Es wäre zu viel gesagt, dass Social-Media-Debatten Wahlausgänge maßgeblich und vollständig beeinflussen", meint Oliver Zöllner, Professor für Medienforschung und Digitale Ethik in Stuttgart. Dennoch hätten Facebook, Twitter und Google "einen wichtigen Einfluss auf das Denken, Meinen und möglicherweise auch Handeln von Menschen". Darüber müsse sich die Gesellschaft stärker im Klaren sein.

Eine viel größere Gefahr als durch Trolle oder Social Bots könnte im direkten Vorfeld der Wahlen durch das "Leaken" brisanter oder gegebenenfalls falscher oder auch gestohlener Informationen ausgehen, befürchtet Christian Grimme, Leiter des staatlich geförderten PropStop-Projekts gegen verdeckte Propaganda-Angriffe über Online-Medien. Die zentrale Frage nach der Wirkung solcher Aktionen sei nicht hinreichend geklärt. Der indirekte Effekt permanenter Desinformationskampagnen sei vor allem der damit verbundene Vertrauensverlust etwa in die "Gatekeeper-Funktion" von Journalisten oder das System Politik insgesamt.

Das EU-Parlament selbst ruft die Bürger der Gemeinschaft derweil mit einem emotionalen Spot aus der Perspektive eines Neugeborenen dazu auf, von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. "Wähle das Europa, in dem ich aufwachsen soll", fordert eine Kinderstimme in dem Video. "Wähle deine Zukunft!" Jeder Mensch könne schon allein etwas bewirken, "aber gemeinsam können wir wirklich Großes erreichen". Die Herausforderungen seien global, "aber als vereintes Europa können wir vorangehen und den Klimawandel bremsen. Die Grenzen sicher machen. Gemeinsam können wir Frieden, Freiheit, Rechte und Demokratie fördern." Jedes Kind, das geboren werde, sei ein weiterer Grund dafür, die Welt zu gestalten.

Analysten der Bertelsmann-Stiftung gehen zugleich davon aus, dass viele Europäer den Urnengang für eine Protestwahl nutzen werden. Sie könnten im Mai "mehrheitlich gegen, statt für einzelne Parteien stimmen", heißt es in Gütersloh. Gleichzeitig zeigten sich die Anhänger der extremen und europakritischen Ränder stärker mobilisiert als die "noch etwas wahlmüde politische Mitte". Dies könnte das Ergebnis prägen und die Bildung "positiver Mehrheiten" im neuen EU-Parlament erschweren.

Zwei Drittel aller Europäer wollen laut der Studie, für die 23.725 Wahlberechtigte in zwölf EU-Ländern befragt wurden, ihr Kreuzchen machen. Im Durchschnitt identifizierten sich demnach aber nur etwa sechs von 100 Teilnehmern positiv mit einer Partei. Dagegen habe fast jeder Zweite eine "negative Parteiidentität", lehne also eine oder sogar mehrere Fraktionen vollständig ab. Gleichzeitig hätten die Rechtspopulisten mit rund zehn Prozent die höchsten und die Linkspopulisten mit rund sechs Prozent relativ hohe Werte bei den positiven Parteiidentifikationen. Die Außenparteien hätten es angesichts des weit verbreiteten Gefühls von Bürgern, durch ihre Abgeordneten nicht angemessen repräsentiert zu werden, in relativ kurzer Zeit geschafft, eine stabile Stammwählerbasis aufzubauen.

Um nur eine Anti-Haltung auszudrücken, ist die Europa-Wahl aber zu wichtig. Brüssel und Straßburg sind überall: Einheitliche Sozialstandards, Grenzwerte für Umweltbelastungen in den Städten, Regeln fürs Internet und die Gestaltung der Digitalisierung: das EU-Parlament stellt auf zahlreichen Ebenen zusammen mit der Kommission und dem Rat die Weichen. Mit den vielbeschworenen gemeinsamen Werten ist es dabei gar nicht so gut bestellt: In 16 von 28 EU-Staaten haben sich die Demokratiestandards 2018 verschlechtert, ist den aktuellen Indikatoren der Stiftung zum nachhaltigen Regieren zu entnehmen. Staatenlenker polarisierten zunehmend bewusst, um einzelne Wählergruppen zufriedenzustellen. Die Beobachter warnen: "Europa ist die Wiege der Demokratie. Doch eine demokratische Vergangenheit schützt nicht immer vor einer autoritären Zukunft." (bme)