Missing Link: Internet Governance - aus der Internet-Ursuppe zu neuen Horizonten und wieder zurück

Internet Governance? Es geht darum, wie wir unser global-lokales Netz-Zusammenleben regeln. Etwas Historie und Widerspruch zum demokratie-defizitären Backlash.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Missing Link: Internet Governance - aus der Internet-Ursuppe zu neuen Horizonten und wieder zurück

(Bild: Shutter Ryder/Shutterstock.com)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

"Multi-Stakeholder" klingt nach Mist. Und was muss man sich eigentlich unter "Internet Governance" vorstellen? Dabei meint "Multi-Stakeholder" eigentlich nichts anderes als die Anerkenntnis, dass fürs Netz der Gesetzgeber allein wenig ausrichten kann, die Wirtschaft irgendwie auch ein Regulierer ist und die Zivilgesellschaft auch ein Wörtchen mitzureden hat.

Die Idee, dass aus der Kakophonie einer sich um "Internet Governance" streitenden Gemeinschaft neue Denkanstöße dafür kommen, wie wir insgesamt unser global-lokales Zusammenleben regeln, verblasst angesichts des aktuellen Backlashs Demokratie-defizitärer Staaten mehr und mehr zur Utopie. Nahezu byzantinisch anmutende Verwicklungen und Organisationswucherungen machen die Geschichte von der anfänglichen einfachen Namens- und Nummernvergabe zur Politisierung der Netz-Technik und -Verwaltung zudem schwer durchschaubar.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Der Begriff "Internet Governance" wurde, wie Wolfang Kleinwächter, Deutschlands Mister Internet Governance schnell erklären kann, vom National Infrastructure Project an der Harvard University geprägt, das der Clinton'schen Idee einer Industrieselbstverwaltung Ausdruck verlieh. "Governance" statt Government war die Devise der 90er Jahre. Wer das Wortungetüm Multi-Stakeholder-Governance zuerst verwendet hat, das muss in Zukunft wohl erst noch von Internet-Historikern erforscht werden.

Klar ist, dass die Idee einer Selbstverwaltung durch Techniker und Unternehmen, in der DNA des Netzes steckt. Statt einer Zuteilung von Rufnummern durch staatlichen Behörden und einer Koordination des Nummernraums durch eine zwischenstaatliche Organisation wie die Internationale Fernmeldeunion (ITU) wurden IP-Adressen, die Rufnummern im Netz, staatsfern, privat und anfangs händisch vergeben.

Das gleiche gilt für Domains, die später halfen, die Adressierung zu erleichtern. Dieselben Wissenschaftler und Geeks (Unternehmen kamen erst mit dem Entstehen des kommerziellen Internet verstärkt hinzu) entschieden über die Art und Weise wie korrekte IP-Adressen und Domains auszusehen hatten und wie Verkehr durchs Netz geschickt werden soll. Voilà, hier sind die drei ursprünglichen Säulen von "Internet Governance": Names, Numbers, Protocols.

Ein einzelner Wissenschaftler kümmerte sich ursprünglich um all das: die Verwaltung von Domainnamen und IP-Adressen und die Redaktion der von der entstehenden Internet Engineering Task Force (IETF) entwickelten technischen Protokolle, der so genannten Request for Comments (RFCs). Jon Postel, vom Economist als Gott des Netzes tituliert, "wenn es einen gibt", war sozusagen der Kopf und das Herz der Internet Assigned Numbers Authority (IANA), die all diese Funktionen in sich vereinte. Postel vergab auch IP-Adressen an die aus Deutschland anreisenden Internetpioniere und übertrug die Verantwortung für .de an Wissenschaftler der Uni Dortmund, alles auf Zuruf und Handschlag.

Spätestens Ende der 90er Jahre war klar, dass dieses System nicht skaliert; Postel setzte sich selbst dafür ein, die Verwaltung der Namen auf organisatorisch solide Füße zu stellen. Dabei lieferte sich der von der ersten und auch späteren Internet-Techniker Generationen bis heute verehrte Wissenschaftler eine regelrechte Schlacht mit der US-Regierung und dem damaligen Monopolisten Network Solutions (NSI), der immerhin 70 Dollar pro Domain (für zwei Jahre) abkassierte.

Die US-Regierung gab im Rahmen ihrer geplanten Privatisierungsinitiative zwar Wettbewerb und private Selbstverwaltung als Motto aus. Sie verkündete jedoch gleichzeitig, dass das bis dahin nicht involvierte US-Handelsministerium den Daumen auf der DNS-Rootzone und der geplanten Selbstverwaltung halten sollte.

Im Zuge der Auseinandersetzung um das von der Clinton-Administration vorgelegte Green Paper lenkte Postel schließlich Ende Januar 1998 acht der 13 DNS-Rootserver direkt zu der von ihm gemanagten IANA um.

Nur NSIs A-Rootserver und die direkt von US-Behörden und US-Militär gehosteten Rootserver machten beim Aufstand nicht mit. Postel aber demonstrierte, dass das existierende Rootsystem nur auf der Basis eines Konsenses funktionieren konnte, beziehungsweise leicht Alternativen aufzubauen waren.

Das Innere der Hagia Sophia in Instanbul - als Konstantinopel (Byzanz) war die Stadt Hauptstadt des Byzantinisches Reiches (Ostrom). Angesichts seiner in Spätbyzanz bestehenden verwickelten Orginasitions- und Verwaltungsstrukturen dient es oft als abschreckendes Beispiel für überbordende Bürokratie. Manches mal scheint sich die heutige Internet-Verwaltung unter ICANN-Ägide einiges daran abgeschaut zu haben.

(Bild: Tatiana Popova / shuttersock.com)

Ende 1998 entstand nach Zugeständnissen der US-Regierung, die im White Paper niedergelegt waren, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN). Postel erlebte den Start der oft übertrieben als "Internet Regierung" titulierten kalifornischen Non-For-Profit-Firma nicht mehr. Der Internet-Gott starb überraschend am 16. Oktober 1998. Die ICANN nahm ihr Anfangs hoch umstrittenes Geschäft im März 1999 auf; sie hatte zu Anfang jede Menge Gegner.

Beim zweiten Treffen der ICANN, im Berliner Adlon, nannten Vertreter des DNS-Monopolisten NSI die handverlesenen ICANN-Direktoren "eine Bande von Verbrechern". Pioniere des Domaingeschäfts in Europa, die zuvor im Benehmen mit Postel einen eigenen Vorschlag für die künftige private Selbstverwaltung gemacht hatten, forderten echte Mitspracherechte. Der vom Chef des brandneuen australischen National Office for the Information Economy (NOIE), Paul Twomey, geleitete Regierungsbeirat schloss sich in eigenen Räumen des Adlon ein, um die künftige Rolle internationaler Regierungen in der Selbstverwaltung zu diskutieren.

Ein Teil der ICANN-Direktoren wiederholten gebetsmühlenhaft, dass an der Arbeit der ICANN doch nichts Politisches sei. Es gehe lediglich um die Koordination der technischen Ressourcen, sagte etwa der 2003 verstorbene Hans Kraaijenbrink, Vorsitzender des Verbands der europäischen Telekomunternehmen, ETNO, und einer von neun Gründungsvorständen der ICANN.

Hinter vorgehaltener Hand raunten diejenigen, die in der IETF-Standardisierungsarbeit beziehungsweise in den unter der mittlerweile unterhalb der IANA entstandenen regionalen IP-Adressverwaltungen engagiert waren, dass die ICANN eine gute Abschirmung sei. Mit dem Hickhack um die rund um Domains aufkommenden Wettbewerbs- und Markenrechtsfragen glaubte man, die ICANN als Puffer gegen eine Politisierung der eigenen Arbeit geschaffen zu haben.

Für die IP-Adressverwalter zeigte sich schnell, dass sich etwa die Internationale Fernmeldeunion, die in den Anfangsjahren abwechselnd mit anderen Standardisierungsorganisationen sogar selbst Vorstandsmitglieder bei der ICANN stellte, sich nicht in ihren Initiativen behindern ließ, sich immer wieder selbst als Nummernverwalter auch im IP-Bereich ins Spiel zu bringen. Hochpolitisch wurde es etwa dann, wenn es darum ging, ob die zur Neige gehenden IPv4-Adressen fair verteilt sind.

Bei der IETF, die weiterhin IP- und anderer zentrale Netzprotokolle entwickelt, gibt es bis heute noch Ingenieure, die von der Idee, dass Standards politisch sind, nichts wissen wollen. Aber deren Zahl nimmt nicht zuletzt deshalb ab, weil die Organisation selbst im Umbruch ist.

Ehemals den Standardprozess dominierende Hardwarefirmen werden abgelöst von den großen Plattformen, die zentrale Bausteine des Netzes, etwa im Bereich Transportprotokolle, revolutionieren: Das aus Googles Laboren stammende Quic-Protokoll etwa gilt vielen als neues TCP. Der Umbau im Bereich eines anderen klassischen Protokolls, des DNS, könnte Zentralisierungstendenzen verstärken, warnen langjährige IETF-Experten. Schließlich hat sich mit den Enthüllungen von Edward Snowden die Auseinandersetzung über den Grad an Verschlüsselung von Kommunikation im Netz noch einmal verschärft.

Das augenscheinlichste Symbol für die Politisierung der Debatte um die Organisation des Netzes und der Geburtshelfer des Internet Governance Forum der Vereinten Nationen ist allerdings die zentrale Rootzone des DNS. Ein Scharmützel gab es im Rahmen des ersten Weltinformationsgipfels (World Summit in the Information Society, WSIS) über eine von ITU-Mitgliedern geforderte "global repräsentative Lösung" für die Verwaltung von Rootservern, Domainnamen und IP-Adressen. Die einseitige US-Aufsicht über Rootzone und ICANN brachte die abschließende WSIS Konferenz in Tunis 2005 beinahe zum Scheitern. Insbesondere arabische Staaten, Russland und China, schlussendlich aber auch Vertreter von EU-Staaten wollten die einseitige US-Hoheit über die Netzverwaltung nicht weiter hinnehmen.

Ergebnis des Zanks auf internationaler Bühne war die Einrichtung des Internet Governance Forums und eines Prozesses, der vage als "Verbesserte Zusammenarbeit" (enhanced cooperation) bezeichnet wurde. Mit letzterem taten sich die Regierungen extrem schwer, über Jahre kam der Prozess, von dem niemand so recht wusste, wie er aussehen sollte, nicht in Gang.

Schon 2006 aber startete trotzdem das Internet Governance Forum. Der erste Gastgeber des IGF war mit Athen eine Wiege der Demokratie. Doch die heiß umstrittenen Fragen zur Demokratisierung beziehungsweise Internationalisierung der Netzverwaltung wurden erst einmal nicht angefasst, um das zarte Pflänzchen IGF nicht gleich zu gefährden.

In Athen nahm man sich sofort eines breiten Themenspektrums von "Internet Governance" an, genauso wie die zwischen den beiden WSIS-Phasen in Genf (2003) und Tunis (2005) als "Schlichterin" eingesetzte Working Group of Internet Governance es formuliert hatte.

"Es sollte klar sein", befand die WGIG in ihrem Abschlussbericht, "dass Internet Governance mehr umfasst als Internet-Namen und -Nummern, also die Dinge, um die sich die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) kümmert; es umfasst auch andere Themen von öffentlichem Interesse, wie kritische Internet-Ressourcen, Sicherheit im Netz sowie entwicklungspolitische und die Nutzung betreffende Aspekte."

Unter der Clinton-Regierung wurden die Grundlagen dafür gelegt, die Internet-Verwaltung in die privatrechtlich organisierte ICANN zu verlagern und die Oberaufsicht der US-Behörden über die Netzstrukturen zu beenden.

(Bild: Gino Santa Maria / shutterstock.com)

Diese breite Definition von Internet Governance, die eine enge Auffassung rund um IANA und die Selbstverwaltung von Namen und Nummern abgelöst hat, hat auch den Streit um die Aufsicht über die IANA etwas aus dem Rampenlicht gerückt. Immerhin ist die Kuh rund um das Abstempeln von Änderungen in der Rootzone durch Beamte des US-Handelsministeriums inzwischen vom Eis. In einem letzten Schritt, bejammert von einzelnen republikanischen Politikern, hat die Obama-Regierung schließlich auch den Vertrag mit der ICANN auslaufen lassen.

Die breite Definition von Internet Governance, ohne die man das IGF nach Erledigung des IANA-Streits hätte dicht machen können, bescherte dem Forum neben einigen Dauerbrennerthemen wie dem Zugang zum Internet und den Grundrechten im Netz überbordende Themenlisten. Der jeweils letzte Schrei der Netzpolitik wurde stets aufgegriffen. Natürlich war KI ein zentrales Thema beim IGF in Berlin und natürlich hat das IGF auch eine eigene Dynamic Coalitions für Blockchain Anwendungen (seit 2017) und das Internet der Dinge (seit 2010).

Mit einigen Themen war man selbst so früh am Start, dass die Themen wieder in der Versenkung verschwanden, bevor sie wirklich breitere Aufmerksamkeit bekamen. Open Standards thematisierten einzelne Regierungen des Südens, die inzwischen untergegangene Firma Sun Microsystems, die Free Software Foundation Europe und andere beispielsweise 2006. Bereits 2007 rief eine Koalition von 60 Institutionen dazu auf, das IGF dazu zu nutzen, internationale Grundsätze für Privatheit und Datenschutz im Netz zu entwickeln. Manch gute Arbeit, wie die 2011 von der Dynamic Coalition on Rights and Principles vorgelegten "Charta der Menschenrechte und Prinzipien für das Internet" ging in der sich entwickelnden Prinzipienschwemme unter – und wurde wieder und wieder neu erfunden.

Rechts und links des stets finanziell klammen IGF, das durch das Verbot, Empfehlungen zu verabschieden, zusätzlich behindert wurde, machen mittlerweile andere Plattformen Netzpolitik. Beim IGF 2019 in Berlin konnte man auch hören, dass am Ende letztlich doch der Gesetzgeber – national, regional oder noch besser international – das letzte Wort haben muss.

Nach fast zwei Jahrzehnten intensiver Diskussionen über Internet Governance und Multi-Stakeholder haben jedoch die Mehrzahl der Regierungen – zumindest der demokratischen, denn von autoritären darf man das ohnehin nicht erwarten – wenig dazu gelernt. Echte Fortschritte in der Organisation der Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Technikexperten bei der Entwicklung von Regeln im Netz? In Deutschland sucht man das vergebens.

Stattdessen kommt beispielsweise der deutsche Gesetzgeber mit Entwürfen daher, die das Konzept Internet nicht verstanden haben; vom technisch und rechtlich unsinnigen – und gegen viel Expertenrat verabschiedeten und dann nicht umgesetzten – Zugangserschwerungsgesetz der aktuellen Kommissionspräsidentin über das vom UN-Sonderberichterstatter für die Meinungsfreiheit gerügte geltende Netzwerkdurchsetzungsgesetz bis zum neu vorgeschlagenen Gesetz gegen Hasskriminalität. So viel Kommunikationsüberwachungsgesetze wie nie zuvor liegen beim Bundesverfassungsgericht und anderen Gerichten zur Überprüfung vor.

Deutschland hat natürlich kein Monopol auf schlechte Netzgesetze. Aus Frankreich, IGF-Ausrichter des vergangenen Jahres, schallt die Warnung von LaQuadrature du Net vor einem Gesetzesentwurf, das aus dem Internet eine Art Fernsehen macht. Aus Polen, IGF-Ausrichter im kommenden Jahr, meldet die Panoptykon Foundation gerade einen ersten Teilerfolg gegen 2016 erweiterte anlasslose Überwachungsbefugnisse des Geheimdienstes vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg.

Chaotische Strukturen und politische EInflußnahme hindern das Netz bislang nicht am funktionieren. Ob es ein großer Freiraum bleibt (oder wieder wird), ist aber nicht garantiert.

(Bild: asharkyu/Shutterstock.com)

Wenn Regierungen nun auch bei den Selbstverwaltungen von Namen, Nummern und Protokollen mehr Einfluss verlangen, ist das angesichts solcher Erfahrungen mit großer Skepsis zu bewerten.

  • Bei der ICANN möchten die Regierungen zum Beispiel schon lange mehr zu sagen haben, was Zulassung und Bedingungen für neue Top Level Domains anbelangt.
  • Bei den Adressverwaltungen wollen Strafverfolger, dass man Adresspolitik für sie macht.
  • Und wenn es um Verschlüsselung bei TLS1.3 geht, engagiert sich der britische Geheimdienst GCHQ für die Lösung mit dem Nachschlüssel.

Gut ist es, wenn wenigstens dieser engere Bereich der Internet Governance so etablierten Multi-Stakeholder-Modellen folgt, dass solcherlei Ansinnen von den anderen Stakeholdern genauestens geprüft, und im Zweifel abgelehnt werden.

Siehe dazu auch:

(jk)