Missing Link: Überwacht die Überwacher, oder: Klagen gegen den Präventionsstaat

Seite 3: Massenhaft Klagen gegen europäische Massenüberwachung

Inhaltsverzeichnis

Die Gesetzgeber in Tschechien, Dänemark, Portugal und Frankreich müssen sich gerade Verfahren vor nationalen Gerichten stellen. In Tschechien klagen die im Parlament erstarkten Piraten, gemeinsam mit einigen Parlamentskollegen anderer Parteien. In Dänemark macht ein Bündnis unter dem Namen "Vereinigung gegen illegale Überwachung" zusammen mit Amnesty Dänemark gegen die in Sachen Novellierung säumige Regierung mobil. Gesponsert wird die dänische Klage von der nationalen Bürgerrechtsstiftung Borgerretsfonden. In Portugal bemüht sich die Organisation "Defesa dos Direitos Digitais" mit einer Beschwerde beim Ombudsmann darum, eine neuerliche Entscheidung des portugiesischen Verfassungsgerichts zu erwirken. Das hatte 2015 das Vorläufergesetz für nicht verfassungsgemäß erklärt.

Ein paar Verfahren gegen die VDS liegen auch schon wieder beim Europäischen Gerichtshof, der sich irgendwann wohl fragen muss, wie oft er seine eindeutigen Entscheidung gegen die Vorratsdatenspeicheurng noch verkünden muss. Anhängig sind derzeit zwei Klagen gegen Frankreichs VDS (C511/18 und C512/18), eine davon betreibt die Organisation La Quadrature du Net gemeinsam mit Frankreichs Verband der Provider. Eine andere Klage richtet sich gegen die VDS im Vereinigten Königreich (C-623/17) und eine gegen das Gesetz in Belgien (C-520/18). Auch hier müssten weitere Klagen folgen, betrachtet man allein die von Italien eingeführte sechsjährige Speicherfrist.

Doch die durch Snowdens Enthüllungen ausgelöste Novellierung beziehungsweise Neuschaffung von Geheimdienstgesetzen zieht auch einen langen Rattenschwanz von Gerichtsverfahren gegen neue Geheimdienstgesetze nach sich. 19 anhängige Klagen unter dem Stichwort Überwachung listet der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Straßburg derzeit, mehr als ein Dutzend davon richten sich gegen das im Sommer 2015 im Schnelldurchgang und mancher Nachtsitzung verabschiedete neue französische Geheimdienstgesetz.

Der Verband Association Confraternelle de la Presse Judiciaire, einer der französischen Kläger, schreibt, dass er sich mit seiner Klage besonders gegen die verschwimmenden Grenzen zwischen Strafverfolgung und Geheimdienstaktivitäten richte. Letztere erhalten mit dem Gesetz offiziell zahlreiche bislang den Strafverfolgungsbehörden vorbehaltenen Befugnisse, von Geolokalisierung bis zu Ton- und Videoüberwachung in privaten Räumen und Fahrzeugen, sowie mehr Zugriff auf Verkehrsdaten in den Netzen. Journalisten und Anwaltsverbände in Frankreich rügen generell auch die Schwammigkeit des neuen Gesetzes. Eine Klage gegen eine nur wenig später verabschiedete Ergänzung für die Auslandsaufklärung, die noch breiter ausgreift, gibt es aber offenbar noch nicht.

Die Liste des EGMR verzeichnet außerdem weitere Klagen gegen das britische Spitzelsystem. Zum einen fassen die Kläger des im vergangenen Jahr entschiedenen Big Brother-Verfahrens nach. Denn der Gerichtshof hatte weder eine massenhafte Datensammlung per se noch den Austausch der unrechtmäßig ausgespähten Daten mit anderen Diensten für grundsätzlich beanstandungswürdig erklärt. Auch bei den Verfahrensrechten blieb der EGMR hinter den Erwartungen einer der drei Klägergruppen zurück. Den Briten gleich tut es der in Straßburg zunächst abschlägig beschiedene Juristenverband Centrum för Rättvisa, der Schwedens Ausspähung der Datenverkehre für unzulässig erklären lassen wollte.

Einen ziemlich spannenden Fall, der auch ein Licht auf die deutschen Trojanerfälle werfen könnte, betrifft die Klage von Privacy International gegen das Hacking von Geräten und Diensten durch den britischen Geheimdienst GCHQ. Mit von der Partie bei diesem Fall am EGMR ist der Chaos Computer Club sowie verschiedene Provider und IT-Dienstleister.

Vollständig ist die Verfahrensliste des EGMR dabei nicht. Es fehlen sowohl eine aktuelle Klage der Stiftung Panoptykon (25237/18) als auch die der Digitalen Gesellschaft Schweiz gegen die Vorratsdatenspeicherung, die sich seit 2014 durch den Schweizer Instanzenweg bis zum EGMR gekämpft hat. Als nächstes hat man sich die Schweizer Kabelaufklärung vorgenommen, also das Absaugen von Datenverkehr an zentralen Internetknoten.

Radome der Bad Aibling Station der NSA, die 2004 geschlossen wurde

(Bild: Dr. Johannes W. Dietrich, gemeinfrei )

Übrigens: Während sich das Schweizer Volk bei Volksabstimmungen für die Einführung von mehr Überwachung ausgesprochen hatte, hatten die Niederländer sich bei ihrer Abstimmung gegen das am 1.1.2018 in Kraft getretene niederländische Geheimdienstgesetz ausgesprochen. Doch auch das half nichts. Daher will eine Koalition angeführt von Bits of Freedom vor den niederländischen Gerichten Klage erheben.

Klagen über Klagen ... Beschwerden selbst aus den Parlamenten heraus ... Hilft überhaupt noch etwas gegen das Abgleiten in den Präventionsstaat? Glaubt man einem jüngsten Alarmruf von EDRI: eigentlich nicht. Anfang des Jahres warnte die Dachorganisation der europäischen Bürgerrechtsorganisationen, dass europäische Regierungen gezielt die Urteile des obersten europäischen Gerichts in Luxemburg zur Vorratsdatenspeicherung einfach missachten, illegale Regelungen beibehalten und mit allen Mitteln versuchen, den Durchgriff auf die Daten für die Strafverfolger zu sichern.

EDRI warnt, die EU Staaten versuchten die Urteile auszusitzen und hofften auf bessere Entscheidungen aus Luxemburg. Und sie forcierten beispielsweise mit einer ihnen genehmen ePrivacy-Regelung neue Ansätze zur Vorratsdatenspeicherung, frei nach dem Motto: Wenn mir ein Urteil nicht gefällt, mache ich mir ein neues Gesetz. (jk)