Missing Link: Wie KI das menschliche Handlungsvermögen untergräbt

Seite 4: Kontrollverlust

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Die menschliche Handlungsmacht wird nicht erst im KI-Zeitalter angezweifelt. In der politischen Theorie des klassischen Liberalismus verankern Denker die Handlungsfähigkeit zwar noch im rationalen Individuum selbst, schreibt der Medientheoretiker Felix Stalder in einem Essay zum einschlägigen Fachbegriff "Agency" im Netzzeitalter. Sie basiert darin "auf dessen freien Willen, Fähigkeit zur Selbstreflexion, der Rationalität und Intentionalität des Handelns". In den meisten anderen Perspektiven der Neuzeit werde Handlungsvermögen aber nur noch relational zu den Umständen angesehen, in denen sich ein Akteur befinde.

Der Marxismus etwa verortet Handlungsfähigkeit laut Stalder "primär auf der Ebene der Kollektive, geformt durch deren objektive historische Bedingungen". Karl Marx selbst habe dies so ausgedrückt: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." Post-marxistische, psychoanalytische und post-strukturalistische Theoretiker wie Louis Althusser, Sigmund Freud oder Michel Foucault sähen den menschlichen Aktionsradius wiederum als reinen Effekt ideologischer, unbewusster oder sprachlicher Prozesse und Dispositive, "die zu einem wesentlichen Teil jenseits oder zumindest außerhalb der Kontrolle des Individuums angesiedelt werden".

Der Topos des menschlichen Kontrollverlusts, den Experten aufgrund von KI derzeit häufig im Munde führen, ist also nicht ganz neu. Der Post-Strukturalismus sei es auch gewesen, der sich in den 1980er Jahren für das Potenzial nicht-menschlicher Akteure zu interessieren begonnen habe, erläutert Stalder. Als zentrale Begriffe der Debatte hätten "Maschine" als Gefüge einer neuen handelnden Einheit unterschiedlicher Elemente beziehungsweise "Assemblage" (Gilles Deleuze und Félix Guattari) sowie "Akteur-Netzwerk" (Bruno Latour) gedient.

Auch den US-Soziologen Langdon Winner und seinen Aufsatz "Do Artifacts have Politics" reiht der Medienforscher hier ein. Demnach erwächst der politische Charakter von Technologien nicht nur aus ihrer Nutzung. Vielmehr sind spezielle politische Abläufe bereits in die technischen Methoden selbst eingebaut, um in jeder Form ihrer Anwendung eine spezielle Wirkung zu entfalten. Technische Gegenstände alias Artefakte wohnt demnach eine politische Wirkmächtigkeit inne: eine Erntemaschine etwa trägt das Programm der industriellen Rationalisierung in sich.

Weitgehend zeitlich parallel entstehen im kulturellen Bereich Science-Fiction-Filme wie Colossus, in denen übermächtig scheinende Computer die Handlungsfähigkeit des Menschen völlig unterlaufen. Ein riesiges, in den USA für die Raketenabwehr gebautes Elektronengehirn vereinigt sich in dem Streifen von 1970 zunächst mit einem vergleichbaren sowjetischen Verteidigungssystem und plant die globale Machtübernahme. Wissenschaftler, die sich dagegen zu wehren suchen, müssen auf Befehl des Superrechners, der nach der von den Engländern im Zweiten Weltkrieg genutzten Dechiffriermaschine benannt ist, erschossen und verbrannt werden.

Ähnlich wie Orwells Großer Bruder verlangt die ziemlich blechern klingende KI, dass die Menschen ihre Herrschaft innerlich akzeptieren und sie lieben lernen sollten. Wer sich nicht fügt, wird ausgelöscht, schon um den Frieden auf Erden zu wahren. "Hal 9000" lässt grüßen, denn Stanley Kubrick hatte in seinem Oscar-prämierten Filmklassiker "2001: Odyssee im Weltraum" schon zwei Jahre zuvor einen schier allwissenden Supercomputer mit rot leuchtendem Auge in Szene gesetzt, der ein für die Astronauten unschönes Eigenleben entwickelt und Tote verursacht.

Den Gedanken, dass wir alle in einer computerprogrammierten Wirklichkeit leben und von Maschinen ferngesteuert werden könnten, haben die Kinogänger spätestens mit der Matrix-Trilogie seit 1999 in sich aufgesogen. Der Aufstand beziehungsweise die Rebellion der Maschinen gipfelte schließlich vorläufig nach den bereits opulenten Anfängen aus dem Jahr 1984 knapp zwei Jahrzehnte später 2003 in "Terminator 3".