NSU 2.0 & Co.: Hunderte Verfahren wegen Missbrauch von Polizeisystemen
Polizisten nutzen in großem Stil Dienstrechner, um Informationen über Bürger für private Zwecke aus vernetzten Datenbanken abzurufen. Seehofer will eingreifen.
Bundesweit haben Behörden seit 2018 mehr als 400 Ordnungswidrigkeits-, Straf- oder Disziplinarverfahren aufgrund unberechtigter Datenabfragen durch Polizeibeamte aus vernetzten, zur Strafverfolgung angelegten IT-Systemen eingeleitet. Dies ergab eine Umfrage der Welt am Sonntag bei den Innenministerien und Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder.
Die Zahlen dürften noch höher liegen, da die zuständigen Stellen in Sachsen-Anhalt bis zum Ablauf der Frist keine konkreten Zahlen nennen konnten. Unter den Angaben ist laut dem Bericht der Welt am Sonntag auch eine zweistellige Zahl eingestellter beziehungsweise noch in Prüfung befindlicher Verfahren.
Mangelnde Kontrolle der Zugriffe
Ein Login in Polizeirechner öffnet den Zugang zu zahlreichen Registern. Fahnder in Berlin etwa können so in bis zu 130 lokalen, bundesweiten, europäischen und weltweiten Datenbanken recherchieren und teils nicht-öffentliche, sensible Informationen über die Bürger abrufen. Zugriffe werden oft nur stichprobenhaft protokolliert und noch laxer kontrolliert, wobei sich die Auflagen bundesweit stark unterscheiden.
Müssen Beamte in Baden-Württemberg so jede fünfzigste Abfrage begründen, forderte Hessen das seit vorigem Jahr bislang nur bei jeder zweihundertsten. Das hessische Innenministerium hat aufgrund der NSU-2.0-Affäre aber einen Maßnahmenkatalog in Kraft gesetzt, um die Polizeidatenbanken besser abzudichten und die Kontrolle engmaschiger zu gestalten. In Bundesländern wie Baden-Württemberg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen ahnden Datenschutzbehörden Ordnungswidrigkeiten, in anderen hat die Aufsicht keine entsprechenden Befugnisse.
Rechtswidrige Zugriffe
Missbräuchliche Abfragen sind bundesweit in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, seit immer mehr Personen des öffentlichen Lebens rechtsextreme Drohschreiben mit Signaturen wie "NSU 2.0" oder "SS-Obersturmbannführer" erhalten. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erklärte vorige Woche, von 69 solchen Mails und Faxen Kenntnis zu haben. Die dabei teils verwendeten nicht-öffentlichen Daten von mindestens drei Betroffenen seien zuvor offenbar über hessische Polizeicomputer in Frankfurt und Wiesbaden abgefragt worden. Bisher sei ein zeitlicher, aber kein kausaler Zusammenhang belegt worden.
Rechtswidrige Zugriffe auf Polizeidatenbanken sind unter anderem auch in Berlin, Baden-Württemberg, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern dokumentiert. Polizisten loggen sich oft nicht aus, wenn sie etwa zu einem Einsatz müssen, sodass Dritte eine laufende Sitzung einfach übernehmen können. Bei der Berliner Polizei hatte es ferner Berichte gegeben, dass sich die Passwortabfrage für das dortige Zugangssystem durch Reset-Anfragen austricksen lässt.
Nachvollziehbare Abfragen
Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Sebastian Fiedler, forderte jüngst im TV-Sender Phoenix, dass es in Deutschland prinzipiell nachvollziehbar sein müsse, welche individuelle Person Datenabfragen an Computern bei der Polizei vornehme. Eigentlich funktioniere dies normalerweise auch bereits. Ganz offenkundig sei dieses System in Hessen aber schon zum wiederholten Mal durchbrochen worden. Der BDK habe "ein riesengroßes Interesse daran, dass hier wirklich der Letzte auch aufgedeckt wird, der sich an einer solchen braunen Soße in den Sicherheitsbehörden beteiligt hat".
Auf den öffentlichen Druck hin hat Bundesinnenminister Horst Seehofer angekündigt, gegebenenfalls mit technischen Sicherungsmaßnahmen verhindern zu wollen, dass Polizisten illegal Daten abfragen. "Ich werde prüfen, ob der Zugriff auf Polizeidatenbanken mit biometrischen Merkmalen besseren Schutz ermöglicht", erklärte der CSU-Politiker laut der Nachrichtenagentur AFP. Datenzugriffe seien "eine sehr sensible Angelegenheit und sollten deshalb mit den höchsten Standards geschützt sein".
Laxe Ermittlungen?
Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die selbst eine NSU-2.0-Drohmail erhalten hat, moniert, dass die Behörden nicht mit Nachdruck ermittelten. Die Linke beklagt: "Es wurden bis heute manche der beschuldigten Polizisten nicht vernommen und andere, mit deren IT-Zugängen persönliche Daten abgefragt wurden, mussten nur als Zeugen aussagen." Ihr zufolge hätten Maßnahmen ergriffen werden müssen wie "Durchsuchungen am Arbeitsplatz, Beschlagnahmung der Handys, Befragung von Kollegen".
Auch der FDP-Innenexperte Konstantin Kuhle kritisiert eine schleppende Aufklärung. Die Innenminister von Bund und Ländern müssten sicherstellen, "dass unbefugte Datenabfragen sofort gestoppt werden". Der grüne Fraktionsvize Konstantin von Notz sieht den Generalbundesanwalt gefordert, bei den aktuellen Entwicklungen mit einem "dramatischen Anstieg an Fällen" sehr genau hinzuschauen und diese gegebenenfalls an sich zu ziehen. Auch Renner bedauert, dass die Bundesanwaltschaft bislang keine Basis dafür erkennen kann, die Ermittlungen zu übernehmen.
Am Freitag waren zwei Tatverdächtige im NSU-2.0-Fall vorläufig festgenommen worden, teilte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main am Montag mit. Dabei handelt es sich nach Angaben der Süddeutschen Zeitung um einen ehemaligen bayerischen Polizisten und dessen Ehefrau. Beide sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß, weil die Voraussetzungen für einen Haftbefehl nicht vorlagen. Der 63-jährige Mann ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft bereits früher wegen rechtsmotivierter Straftaten aufgefallen. Er und seine Frau sind verdächtig, die E-Mails mit beleidigenden, volksverhetzenden und drohenden Inhalten an Bundestagsabgeordnete und weitere Adressaten – darunter viele Frauen – versendet zu haben. Die Ermittlungen werden fortgeführt.
(olb)