Netzneutralität, Vermittlungstechnik und die Zukunft des Internet

Auf dem "Vermittlungstechnischen Kolloquium" des österreichischen Verbandes für Elektrotechnik gingen die Meinungen weit auseinander, ob das Internet ein "IP Multimedia System" für bessere Kontrolle und Abrechnungsmöglichkeiten durch die Carrier braucht.

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Von
  • Monika Ermert

Als reine Marketingfloskel hat der der österreichische Internetpionier Henry Sinnreich die viel beschworene Zukunft des Internet unter dem Label "Next Generation Network (NGN)" bezeichnet. Auf dem "Vermittlungstechnischen Kolloquium" des österreichischen Verbandes für Elektrotechnik in Wien meinte Sinnreich: "Der Dienst heißt einfach Internet, und die nächste Generation ist IPv6." Sinnreich war viele Jahre MCI-Ingenieur im Team von TCP/IP-Miterfinder Vint Cerf und ist nach Beschäftigung bei VoIP-Pioneer Jeff Pulver nun bei Adobe. Sinnreich verteidigte vehement die End-to-End-Kommunukation. Das von Netzbetreibern beworbene "IP Multimedia System" (IMS) dient dagegen seiner Ansicht lediglich Hardware-Herstellern zum Verkauf überflüssiger Netzwerkkomponenten.

Mit dem IMS versucht das 3rd Generation Partnership Project (3GPP), das beispielsweise auch den UMTS-Beschleuniger HSDPA standardisiert hat, eine einheitliche Grundlage für multimediale, auch für Mobilfunk geeignete Netzwerkstrukturen der Zukunft zu legen. Mit einer IMS-Architektur könnten Carrier aber auch ihr Verlangen befriedigen, für den Aufbau ihrer Hochgeschwindigkeitsnetze Inhalteanbieter zur Kasse zu bitten. Die Carrier wollen Möglichkeiten erhalten zur unterschiedlichen Behandlung des Datenverkehrs in ihren Backbones, abhängig beispielsweise von Quelle, Dienst und Bandbreitenhunger. So könnten sie dann Datenverkehr etwa von besser zahlenden Kunden bevorzugt behandeln oder Konkurrenz für ihre Festnetze durch VoIP-Anbieter an den Rand drängen. Der Streit darüber wird unter dem Stichwort "Netzneutralität" geführt: Die Gegner des Vorhabens pochen auf die Gleichbehandlung allen Traffics im offenen Internet – unabhängig von Ausgangspunkt oder Inhalt der Datenpakete.

"Sie brauchen keinen SIP-Proxyserver, keinen Session Border Controller, keine Softserver oder Media-Server, keine Netzwerkkomponenten für Quality of Service, keine Policy-Server, kein Netzwerkmanagement und keine Systemintegration. Und Sie brauchen auch keine Experten für das alles zu bezahlen", sagte Sinnreich. In der P2P-Welt stören die Komponenten, weil sie die Netze komplexer machen. "Es gibt ein neues Feature, die Komplexität nimmt zu, dann gibt es ein Feature, um das Komplexitätsproblem zu lösen, und dann geht es von vorn los."

Ein wenig anders sieht das Thomas Magedanz von der TU Berlin, der die IMS-Architektur vorstellte. IMS kombiniere praktisch IP und klassische Telekommunikationswelt mit der Maßgabe, ein aus Sicht der Netzbetreiber "kontrollierbares" Internet zu schaffen. Nutzern sollen darüber vom Robby-Williams-Download bis zum Madonna-Wake-up-Call das bekommen, wofür sie Geld bezahlen. In Mobilfunknetzen sei IMS als Overlay-Netz schon gestartet, und praktisch jeder Netzbetreiber habe derzeit eine IMS-Strategie, einschließlich der Kabelbetreiber, meinte Magedanz. Über ihr ohnehin IP-basiertes Netz könnten sie mittels aufgesetztem IMS alle Arten von Applikationen "andocken". Der Kampf ums künftige Netz spiele sich aber genau bei den Applikationen ab.

Technisch basiert IMS, erläuterte Magedanz, auf SIP, dem von VoIP bekannten Signalisierungsprotokoll. Die Verbindung zwischen den verschiedenen Netztypen werde durch Media-Gateways geschaffen. Aus welchem Netz er zugreife, sei für den Nutzer egal. Den Netzbetreibern sei einfach klar, dass es in fünf bis zehn Jahren keine Leitungsvermittlung mehr gebe, sagte Magedanz. "IMS ist praktisch die letzte Antwort der Telekommunikationswelt auf das Internet." Eine "lausige Antwort", sagte Sinnreich, weil sie die Innovation an den Netzwerkenden durch die Komplexitität verhindere.

Wie mehr Power für den User und das Eigeninteresse der Telekommunikationsunternehmen möglicherweise vereinbart werden können, entwarf in Wien Wilhelm Wimmreuter von der Siemens AG. Angefangen vom Outsourcing der Intelligenz vom Kernnetz zu den Endgeräten, wobei auch Kosten auf den Nutzer verschoben werden, bis hin zum so genannten "Crowdsourcing" könnten die Unternehmen von mehr Offenheit profitieren. Unter Crowdsourcing verstehe man die kollaborative Weiterentwicklung von Nutzerangeboten, unter Einbeziehung der Nutzer.Wimmreuther nannte als Einnahmequellen für die Telekommunikationsbetreiber auch die Registrierung für Telefonnummern im Stil von Domains. Bei einem Euro Registriergebühr und 2,8 Milliarden Telefonkunden könnte einiges ins Netz reinvestiert werden. Möglicher Vorteil aus Sicht der Nutzer: Sie sollen sich dann mit der persönlich vergebenen Nummer überall ins Netz einbuchen können.

Doch selbst ein zentrales DNS oder Telefon-Domain-System wie ENUM sollte aus Sicht des Querdenkers Sinnreich komplett aufgegeben werden. "Das DNS muss ersetzt werden, es ist längst zu politisch geworden", sagte Sinnreich. Es gebe auch bereits mehrere Forschungsarbeiten, wie die lästige DNS-Root-Hierarchie und das aus Sicht ständigen Roamings ungünstige Caching ersetzt werden könnten. Bei P2P-Anwendungen wie Skype sei auch kein DNS notwendig. Moderator Jörg Eberspächer von der TU München nannte mit Blick auf eine mögliche ideale P2P Internetwelt allerdings die Skalierbarkeit als ein mögliches Problem. Dafür braucht es laut Sinnreich aber nur mehrere P2P-Schichten.

Welches Internet sich am Ende durchsetzt, darĂĽber gehen die Meinungen auseinander. Edmund Haberbusch von der Telekom Austria gab sich auf jeden Fall siegessicher: "Wird es uns noch geben? Wenn wir stehen bleiben, schaffen wir es nicht. Aber schon heute arbeitet 90 Prozent meiner Mannschaft ausschlieĂźlich mit IP, bei der Umsatzgenerierung sollen die neuen Dienste in zwei Jahren 30 Prozent des Umsatzes machen. Wenn wir unsere Hausaufgaben machen, haben wir eine groĂźe Zukunft vor uns, meine ich."

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(Monika Ermert) / (jk)