Problemzone Boeing: Neuer Chef gefunden

Der 64-jährige Robert "Kelly" Ortberg übernimmt bei Boeing, einem Flugzeug-Zusammenbauer in der Krise. Das Geschäft läuft bescheiden.​

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Eine Boeing 737 Max steht auf einem Rollfeld; der Himmel ist schwarz

Eine Boeing 737 MAX

(Bild: Boeing)

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Inhaltsverzeichnis

Boeing hat einen neuen Chef: Am 8. August übernimmt Robert "Kelly" Ortberg die Funktionen des CEO und des President von Dave Calhoun. Ortberg erhält auch einen Sitz im Verwaltungsrat. Aufgrund seines Alter von 64 Jahren wird er den Konzern nicht aus der Krise führen können. Denn Boeing hat ein "Zwei-Jahrzehnte-Problem", wie es Scott Kirby formuliert, CEO des Boeing-Großkunden United Airlines. Die aktuell schlechten Quartalszahlen sind eine vergleichsweise kleine Schwierigkeit.

In Zusammenhang mit zwei tödlichen Abstürzen von 737-Max-Flugzeugen hat sich Boeing Anfang Juli der Verschwörung zum strafrechtlichen Betrug an der US-Regierung schuldig bekannt. Für dieses Verbrechen ist eine Geldstrafe ausgehandelt, die 0,03 Prozent des jüngsten Jahresumsatzes Boeings entspricht. Im Januar dieses Jahres verlor eine Boeing 737 Max 9 während des Fluges einen Türlochdeckel, konnte jedoch sicher landen. Der Flugzeugtyp erhielt daraufhin Startverbot. Untersuchungen ergaben, dass mehrere Flugzeuge dieses Boeing-Typs Produktions- und Qualitätsmängel aufwiesen. Bei der besagten Maschine fehlten Haltebolzen.

Erschwerend hinzu kamen Vorwürfe mangelhafter Kooperation bei der folgenden Untersuchung. Somit verzögern sich die Zulassungen neuer Flugzeugvarianten 737 MAX 7 und 737 MAX 10. Die US-Luftfahrtbehörde FAA muss genauer hinschauen und ist nicht mehr so freizügig bei der Vergabe von Ausnahmegenehmigungen oder dem Durchwinken von Selbstzertifizierungen wie einst.

Jetzt braucht Boeing eine neue Führung, eine neue Unternehmenskultur und neue Ansätze für Qualitätssicherung – weg von Pfennigfuchserei hin zu Qualitätsbewusstsein und Sicherheitsdenken. Ein Schritt dabei ist der Rückkauf von Spirit Aerosystems; das ist jene Firma, die für Boeing und Airbus Flugzeugrümpfe herstellt und bis 2005 eine Abteilung Boeings war. Das Closing des Rückkaufs ist für Mitte kommenden Jahres anvisiert.

Überhaupt scheint Boeing vom Flugzeugbauer zum Flugzeugzusammenbauer verkommen zu sein. Das geht zurück auf Harry Stonecipher, ab 1997 President und Chief Operating Officer Boeings, 2003 bis 2005 auch Chief Executive Officer (CEO). Er war stolz darauf, die Unternehmenskultur bei Boeing umgepolt zu haben: "Wenn die Leute sagen, ich habe Boeings Kultur geändert – das war das Ziel, damit es wie ein Business läuft anstatt als tolle Technikfirma."

Offloading war sein Credo, besser bekannt als Outsourcing. Boeing zog sich sowohl aus der Entwicklung als auch aus der Herstellung immer weiter zurück. Schon 2001 warnte Boeing-Ingenieur John Hart-Smith in einem internen Whitepaper vor dem Risiko der Outsourcing-Strategie. Das focht Stonecipher nicht an, denn er konnte die Finanzen kurzfristig aufbessern. Seit seinem Amtsantritt als Boeing-President hat die Firma mehr als 60 Milliarden US-Dollar für den Kauf eigener Aktien ausgegeben. Das stützt den Aktienkurs, was dem Management sicher nicht schadet, doch fehlt das Geld dann an anderer Stelle, etwa bei der Qualitätssicherung oder der Entwicklung einer neuen Generation von Flugzeugen. Stattdessen hat sich Boeing darauf versteift, die alte 737 immer länger zu machen.

Robert "Kelly" Ortberg

(Bild: Boeing)

Heute hat eine Boeing 737 MAX laut Econlife mehr als 600 Lieferanten, die ihrerseits wieder hunderte Subunternehmen beauftragen. Bei so vielen Lieferanten und deren Lieferanten in aller Welt wird die Qualitätskontrolle zur Herkulesaufgabe. Auftritt Ortberg. Er bringt jedenfalls viel Erfahrung mit und ist ein Mann vom Fach, kein Finanzer.

Der Amerikaner hat einen Bachelor in Maschinenbau und seine Karriere 1983 bei Texas Instruments begonnen. 1987 wechselte er zum Avionik-Experten Rockwell Collins, bei dem er 2013 zum President und CEO aufstieg. 2018 wurde Rockwell von United Technologies übernommen, 2020 folgte die Verschmelzung mit der Waffenfirma Raytheon, dem weltgrößten Hersteller von Lenkraketen. 2021 trat Ortberg in eine Art Zwischen-Ruhestand. Eine Zeit lang hat er auch den Vorsitz im US-Branchenverband AIA (Aerospace Industries Association) geführt. Wie gesagt ein Mann vom Fach, der zudem gut vernetzt ist.

Der scheidende Boeing-Chef Calhoun durfte am Mittwoch noch einmal schlechte Quartalszahlen präsentieren. Der Konzernumsatz im zweiten Quartal 2024 ist im Vergleich zum gleichen Quartal 2023 um 15 Prozent auf 16,9 Milliarden US-Dollar gefallen. Der Betriebsverlust hat sich verelffacht, auf 1,1 Milliarden Dollar. Fast verzehnfacht hat sich der Nettoverlust (-1,4 Milliarden Dollar), der operative Cashflow hat von 2,9 Milliarden auf minus 3,9 Milliarden Dollar gedreht. Die Zahl der ausgelieferten kommerziellen Flugzeuge ist um ein Drittel auf 92 gefallen, bei den militärischen Luftfahrzeugen ging es von 38 auf 28 Stück zurück (neue und aufgearbeitete). Immerhin stehen in den Büchern noch Aufträge über 516 Milliarden Dollar – 4,3 Milliarden Dollar weniger als zu Jahresbeginn.

"Trotz eines herausfordernden Quartals machen wir substanzielle Fortschritte bei der Stärkung unseres Qualitätsmangements und bei der Aufstellung unserer Firma für die Zukunft", sagte Calhoun zum Abschied, "Wir setzen einen umfassenden Sicherheits- und Qualitätsplan um (…). Die Schritte, die wir setzen, werden helfen, den Betrieb zu stabilisieren." Vertrauen zu schaffen "durch Taten und Transparenz", gibt Calhoun seinem Nachfolger Ortberg als Devise mit auf die Reise.

(ds)