Reis gegen Fingerabdruck: Digitalwahn und Hunger in Indien

Seite 2: Überwachungsstaat Indien

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Nach Ansicht von Pahwa entsteht in Indien derzeit ein Überwachungsstaat. Aadhaar sei eine große Bedrohung sowohl individueller Freiheiten als auch der nationalen Sicherheit. Über die bevorstehenden Verhandlungen vor den Richtern des Obersten Gerichtshofs sagt er: "Ihre Entscheidung wird wohl eine der wichtigsten in der Geschichte des unabhängigen Indien sein."

Das meint er auch deshalb, weil das Aadhaar-System für viele Millionen Inder noch ernstere Konsequenzen hat als staatliche Überwachung – nämlich für diejenigen, die auf staatliche Subventionen angewiesen sind, um sich Grundnahrungsmittel kaufen zu können. Auch das entsprechende Verteilungssystem ist mit Aadhaar verknüpft.

Im ostindischen Bundesstaat Jharkhand, einem der ärmsten des Landes, beziehen etwa 86 Prozent der mehr als 30 Millionen Einwohner subventionierten Reis. Seit Mitte vergangenen Jahres müssen sie sich mit dem in der Aadhaar-Datenbank gespeicherten Daumenabdruck ausweisen, um diesen zu bekommen. Das dafür verwendete Gerät braucht einen Internetzugang – besonders auf dem Land gibt es aber häufig keinen. Zudem kann das Gerät manchmal die Abdrücke nicht lesen.

"Es gibt Leute, die ihre Essensrationen nicht mehr kaufen konnten, seit das biometrische System eingeführt wurde", erzählt Drèze, der zur Zeit Gastprofessor in Ranchi, der Hauptstadt von Jharkhand, ist und Erhebungen in den Dörfern des Staates macht. Es habe auch Hungertode wegen Aadhaar-Problemen gegeben. Aktivisten haben mindestens vier solche Fälle im vergangenen halben Jahr dokumentiert; die Behörden bestreiten allerdings, dass die Opfer an Hunger gestorben seien.

Es treffe die Schwächsten, sagt Drèze – Alte mit abgenutzten Fingerkuppen; alleinlebende Witwen, die mit dem System nicht klarkommen; Arme, die sich eine Fahrt in die Stadt nicht leisten können, um ihre Lebensmittelkarten mit Aadhaar-Nummern verknüpfen zu lassen. "Also genau die, denen das System helfen soll." (mho)