"The Sandman" auf Netflix: vom Kult-Comic zur Erfolgsserie

Seite 2: Die Serie im Vergleich zum Comic

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Der TV-Serie ist deutlich anzumerken, dass hier Fans am Werk waren – oder zumindest Leute, die den Erwartungen der langjährigen Fans gerecht werden wollen. Dennoch hält "The Sandman" dem Vergleich zur Vorlage nicht immer stand.

Stellenweise orientiert sich das Drehbuch sklavisch an den Comics: Dialogzeile für Dialogzeile, Einstellung für Einstellung. Kleine Anpassungen sind unausweichlich: Textboxen werden zu Monologen, einige Sätze werden dem dramaturgischen Fluss zuliebe von anderen Figuren ausgesprochen.

Es gibt aber auch größere Abweichungen: Der "Korinther" tritt weitaus früher in Erscheinung als in den Comics – und verliert dadurch einiges an Effektivität. Dass Folge 5 dem Horror des zugrunde liegenden Comic-Zweiteilers (Hefte 6 und 7) nur im Ansatz gerecht wird, ist zugleich Fluch und Segen: Was schon auf dem Papier abscheulich wirkt, wäre als Bewegtbilder einem breiteren Publikum wohl kaum zumutbar.

Diverse Comic-Figuren wurden 1:1 übernommen, darunter die mythischen Brüder Kain und Abel, der sarkastische Rabe Matthew und der großzügige Untermieter Gilbert. Bei anderen wurde verlustfrei das Geschlecht gedreht: Die Bibliothekarin Lucienne ist im Comic ein Mann mit fliehendem Kopfhaar, John Constantine wurde aus lizenzrechtlichen Gründen in der Serie zur Johanna.

Die Charaktere in "The Sandman" (8 Bilder)

Die etwas verzerrten Bildern mit abgedunkelten Rändern und Unschärfe unten sind Absicht.
(Bild: Netflix)

Auch dass die im Comic blonde Rose Walker in der Serie schwarze Hautfarbe trägt, sollte niemanden stören – Gaiman entwarf die Figur in den späten Achtzigern, als PoC in Comics noch Exoten waren. Eine weitere positive Überraschung ist Gwendoline Christie, die als weiblicher Luzifer mühelos jede Nuance der Figur trifft.

Einige Fans soll es vor den Kopf gestoßen haben, dass das ikonische bleichhäutige Goth-Girl "Death" aus den Comics in der Serie eine moderne schwarze Frau mit Wuschellocken ist. Zehn Minuten mit der TV-Version zerstreuen jedoch alle Zweifel an der Legitimität dieser Anpassung. Ein Geniestreich ist die Besetzung von "Desire" – die Figur ist schon im Comic als nichtbinär definiert, was Mason Alexander Park für die Serie perfekt umsetzt.

Bleibt "Dream", die Hauptrolle. In Gefangenschaft überzeugt Tom Sturridge voll und ganz – eine hagere, unnahbare Figur, die über Wächter 105 Jahre lang dasitzt und stumm grollt. Nach seiner Befreiung blickt der Sandman jedoch aus feuchten Augen, lächelt verhalten, spricht hörbar verletzt – eher ein Emo als der ewige Herr der Traumwelten.

Böse Zungen haben sogar Vergleiche mit Edward Cullen aus den Twilight-Filmen gezogen – ganz so schlimm ist es aber nicht. Letztlich ist der Sandman eine undankbare Rolle: Die Comics entblättern seinen Charakter erst nach und nach; in der Serie muss er gleich die Einleitung sprechen. Dennoch bleibt das Gefühl einer vertanen Chance – ob das am Schauspieler liegt oder an der Regie, ist hierbei schwer zu sagen.

Für diesen Sandman-Leser der ersten Stunde stellte sich irgendwann der ernüchternde Eindruck ein, dass die Serie trotz aller redlichen Bemühungen ein Schatten ihrer Vorlage bleibt. Zu häufig greift die Fernsehfassung auf abgestandene Konventionen zurück, wo der Comic mit jeder Seite aufregendes Neuland betrat.

Das lässt sich nur teilweise damit entschuldigen, dass der Comic selbst gealtert ist. Der einstige Vorreiter des Genres wirkt heute mitunter etwas zu wortlastig; viele der damaligen stilistischen Revolutionen waren inzwischen schon mehrfach in anderen Werken zu sehen. Für die Serie hätte die Herausforderung darin bestanden, nicht aus der Vorlage übernommene Handlungselemente durch vom Gewicht her gleichwertige Neuerungen zu ersetzen. Ein paar Anpassungen der Geschlechter und Hautfarben reichen da nicht aus.

Die letzten Minuten der ersten Staffel beschäftigen sich damit, eine Brücke zur zweiten Staffel zu bauen: Zwei dunkle Gestalten beschließen getrennt voneinander, Morpheus das unendliche Leben schwer zu machen – stille Tage in Klischee. Ein hässlicher Misston am Ende, der dem Geschehen ohne Not einen sauberen Abschluss raubt.

Ob es tatsächlich eine zweite Staffel geben wird, ist aktuell noch offen. Dem Twitter-Konto von Neil Gaiman zufolge war The Sandman am Wochenende in 89 Ländern die meistgesehene Serie. In einem Interview hat Produzent David S. Goyer erklärt, die Drehbücher zur zweiten Staffel seien schon in Arbeit. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die aktuelle Begeisterung lang genug anhält, damit der Traum der zweiten Staffel den Weg in die Wachwelt schafft.

(mho)