Tiktoks Algorithmus könnte Haftung für gefährliche Videos auslösen

Seite 2: Weitere Ausnahmen von Section 230

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Völlig andere Wege, Dienstbetreiber trotz Section 230 für Äußerungen Dritter haften zu lassen, beschreiten unterdessen Richter des US-Bundesberufungsgerichts für den neunten US-Bundesgerichtsbezirk. In diesem Bezirk liegen unter anderem die Staaten Kalifornien und Washington, wo sich Hauptquartiere zahlreiche IT-Konzerne befinden. Demnach sollen die Hostprovider für Zusagen, bestimmte Postings zu unterbinden, haften – auch wenn der Betreiber (oder seine Algorithmen) die Postings gar nicht ausgewählt haben.

Ausgangspunkt ist eine 2009 von dem Berufungsgericht entschiedene Rechtsfrage (Barnes v Yahoo). Damals kontaktiere eine Frau die Chefin der PR-Abteilung mit der Beschwerde, ihr Ex-Freund erstelle wiederholt unzulässig Profile in ihrem Namen. Die PR-Managerin versprach, dass sich die zuständige Abteilung "darum kümmern" werde; dennoch konnte der Ex-Freund weiterhin Yahoo-Profile im Namen der Frau einrichten. Sie verklagte Yahoo und konnte erreichen, dass die Klage trotz Section 230 behandelt wurde, weil Yahoo eine einklagbare Zusage gegeben habe.

Dieses Jahr greifen die Richter ihre damalige Argumentation wieder auf und erweitern sie stark: Betreiber sollen für fremde Inhalte nicht nur dann haften, wenn sie direkte Zusagen geben, sie zu entfernen, sondern auch dann, wenn die Zusage allgemeiner Natur ist. Dazu sind zwei Fälle bekannt geworden.

Im Fall Calise v Meta Platforms könnte Meta für Reklame haften, die chinesische Betrüger auf Facebook geschaltet haben – entgegen Metas Vorschriften. Facebook-User, die auf die Werbung hereingefallen sind, haben Meta auf Schadenersatz verklagt. Sie erheben den Vorwurf, Meta habe die Vertragsverletzung der Werbetreibenden bewusst ignoriert, um das Geschäft nicht zu verlieren. Dadurch habe Meta gegen den mit den Facebook-Nutzern geschlossenen Vertrag verstoßen, in dem Meta verspricht, schädliche Inhalte auf Facebook hintanzuhalten.

Das Berufungsgericht meint im Juni, dass die behauptete Anspruchsgrundlage vertraglicher Natur sei; Meta werde nicht als Verleger oder sich Äußernder verklagt, sondern als Vertragspartner. Daher sei Section 230 gar nicht anwendbar. Die Klage geht daher zurück an das Bundesbezirksgericht, wo die Kläger Gelegenheit erhalten, ihre Vorwürfe zu untermauern.

Der zweite Fall betrifft Yolo Technologies. Dieses Unternehmen stellte eine Erweiterung für die Messaging-App Snapchat zur Verfügung. Die Erweiterung erlaubte Snapchat-Usern, öffentliche Fragen zu posten. (Anmerkung: Snapchat-Betreiber Snap hat Yolos Erweiterung inzwischen deaktiviert). Dritte konnten darauf antworten, ohne ihre Identität offenzulegen. Allerdings drohte Yolo in einer Beschreibung der Erweiterung damit, in Fällen von Belästigung die Identitäten der Belästiger doch offenzulegen.

Dem soll Yolo in einigen Fällen übel belästigter Kinder nicht nachgekommen sein. Anfragen nach den Namen der Täter verhallten laut Klage in mindestens zwei Fällen unbeantwortet. Drei Kinder und ein Nachlass eines Kindes wollen Yolo für belästigende Postings Unbekannten haftbar machen. Auch hier meinen die Berufungsrichter entgegen der ersten Instanz, dass Section 230 nicht davor schützt, für fremde Postings einstehen zu müssen. Ob sich die Kinder auf die Ankündigung Yolos, bestimmte Namen offenzulegen, verlassen dürfen, muss nun das Bezirksgericht klären.

So gesehen dürften sich in fast allen Fällen Grundlagen finden lassen, die Betreiber interaktiver Dienste nicht als Verleger oder sich Äußernder erwischen, sondern auf irgend einer anderen Basis. Schließlich enthalten die Geschäftsbedingungen praktischer aller Dienste von Reputation Klauseln, die strafbare Inhalte unterbinden sollen.

Die Rechtsprechung des neunten Bundesgerichtsbezirks droht also, Section 230 den Zahn zu ziehen. Es bliebe kaum noch ein Wirkungsbereich, was selten Absicht des Gesetzgebers ist. Wenn sich andere Bundesgerichtsbezirke entschieden gegen diese Interpretation stellen, wĂĽrde die Wahrscheinlichkeit steigen, dass sich der US Supreme Court auch dieser Frage annimmt. Auf Seite des Gesetzgebers ist die Auffassung, dass Section 230 reformiert werden soll, weit verbreitet; allerdings gehen die Meinungen ĂĽber das Wie weit auseinander, weshalb Section 230 auch nach fast 30 Jahren fortbesteht.

Das Vefahren gegen Tiktok heißt Taiwanna Anderson et al v Tiktok et Bytedance. Die Zwischenentscheidung des US-Bundesberufungsgerichts für den dritten Bundesgerichtsbezirk trägt das Az. 22-3061. Jetzt wandert das Verfahren zurück zum Bundesbezirksgericht für das östliche Pennsylvania, wo es unter dem Az. 2:22-cv-01849 anhängig ist.

(ds)