Urteil gegen Vorratsdatenspeicherung: Gesetzgeber, Bundesnetzagentur und Provider massiv unter Druck

Nachdem das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen einen ersten Internetanbieter von der Pflicht zum Protokollieren von Nutzerspuren befreit hat, häufen sich die Appelle, die Speicherfristen generell auszusetzen.

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Urteil gegen Vorratsdatenspeicherung: Gesetzgeber, Bundesnetzagentur und Provider massiv unter Druck
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Die klare Ansage des Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, das die Anfang Juli greifende neue Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung nicht mit EU-Recht vereinbar ist und massiv gegen Grundrechte verstößt, bringt Bewegung in den Dauerstreit um das Überwachungsinstrument. Die gesetzlichen Vorgaben muss zwar zunächst nur der Münchner Zugangsanbieter Spacenet nicht umsetzen, der dagegen geklagt hatte und in einem Eilverfahren in der Revision nun Recht bekommen hat. Allenthalben gibt es aber Forderungen, das Werkzeug generell zu entsorgen und die Auflagen zumindest auszusetzen.

"Jetzt ist es an der Zeit für eine Grundsatzentscheidung, um die Vorratsdatenspeicherung endgültig zu stoppen", betont etwa Oliver Süme, Vorstand Politik und Recht beim eco-Verband der Internetwirtschaft, der die Spacenet-Klage unterstützte. "Andernfalls laufen die Unternehmen Gefahr, ein europarechts- und verfassungswidriges Gesetz umsetzen zu müssen und damit Gelder in Millionenhöhe in den Sand zu setzen." Der Gesetzesbeschluss sei von Anfang an "eine netzpolitische Fehlentscheidung" gewesen, vor dem die Wirtschaft immer wieder gewarnt habe.

Unklar ist nur, wer nun am Zug ist und die Maßnahme endgültig aus dem Verkehr ziehen soll. Datenschützer und Politiker sehen den Gesetzgeber gefordert, der sich nach der kommenden Woche aber in die Sommerpause und den Wahlkampf verabschiedet, andere die Regulierungsbehörde. Marit Hansen etwa, Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums Schleswig-Holstein für Datenschutz (ULD), rief die Bundesregierung und den Bundestag auf, "die gerade wieder eingeführten Regelungen über die Vorratsdatenspeicherung zu korrigieren". Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar bezeichnete es als Konsequenz der Entscheidung, dass "nun eine Nichtanwendung der Speicherpflichten das rechtsstaatliche Gebot der Stunde sein sollte".

Jan Philipp Albrecht, Innenexperte der Grünen im EU-Parlament, wertete den Beschluss als "Meilenstein in der Durchsetzung des EU-Grundrechts auf Datenschutz". Dass nun auch höchste Gerichte in Deutschland auf das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gegen das anlasslose Protokollieren von Nutzerspuren verwiesen, "sollte die Bundesregierung unmittelbar veranlassen, das Gesetz zurückzunehmen". Die EU-Kommission müsse zudem den Grundsatzbeschluss der Luxemburger endlich "gegenüber den Mitgliedstaaten per Vertragsverletzungsverfahren umgehend durchsetzen".

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hob die Ansage des Oberverwaltungsgerichts (OVG) hervor, dass "schon im Ausgangspunkt keine legitimen öffentlichen Interessen an einem vorläufigen Vollzug" des umstrittenen Gesetzes bestünden. Er appellierte daher an alle "Telefon-, Mobilfunk- und Internetanbieter, Klage einzureichen und das Überwachungsmonster Vorratsdatenspeicherung nicht umzusetzen". Das für die Bundesnetzagentur zuständige Gericht habe eine auf alle Unternehmen übertragbare Grundsatzentscheidung getroffen, erläuterte Jens Kubiziel von dem Zusammenschluss von Datenschützern und Bürgerrechtlern. Die Provider müssten nun handeln, um die Kommunikationsfreiheit ihrer Kunden zu schützen.

Der IT-Sicherheitsexperte veröffentlichte selbst ein Musterschreiben, mit dem Nutzer den Druck auf ihre Zugangsanbieter erhöhen können. Der Verein Digitale Gesellschaft wandte sich ebenfalls an die Verbraucher mit der Bitte, von solchen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Die Kunden müssten verlangen, dass sich die Provider "unverzüglich gegen die Vorratsdatenspeicherung zur Wehr setzen". Der Beschluss der Münsteraner Richter markiere den Anfang vom Ende der Protokollierungspflichten.

Davon geht auch Ulf Buermeyer aus, Richter am Landgericht Berlin. Seiner Ansicht nach ist die Vorratsdatenspeicherung "komplett tot". Die Provider müssten aber auch das nun eröffnete "Opt-out" wahrnehmen und einen kurzen einschlägigen Antrag beim Verwaltungsgericht Köln stellen, erklärte der Jurist gegenüber heise online. Im Prinzip reiche dafür ein "Copy & Paste" des Richterspruchs aus Münster aus. Buermeyer legte den Zugangsanbietern dringend nahe, von dieser Option Gebrauch zu machen. Andernfalls drohten zumindest bei Aktiengesellschaften kritische Äußerungen wegen Geldverschwendung bei der nächsten Hauptversammlung und schlimmstenfalls sogar "Strafanzeigen wegen Untreue".

Aktivisten überlegen parallel, ob die Bundesnetzagentur dazu gebracht werden könnte, es allen Zugangsanbieter zu untersagen, das europarechtswidrige Gesetz anzuwenden. Die Regulierungsbehörde will die Auswirkungen des neuen Urteils laut einem Bericht von Golem zunächst "sorgfältig prüfen". Von Vodafone und Telefónica hieß es, dass man die Speicherauflagen zunächst weiter umzusetzen gedenke. Die Deutsche Telekom hat selbst im Mai vor dem Verwaltungsgericht Köln gegen den Teil der Bestimmungen geklagt, in dem es um öffentliche IP-Adressen bei Mobilfunk- oder WLAN-Nutzern geht. Der Bonner Konzern rechnet mit einer Entscheidung im Eilverfahren bis Ende Juni und geht davon aus, dass dabei auch das OVG-Urteil berücksichtigt wird. (mho)