Was bedeutet die ganze Aufregung um die neuen Supraleiter?

Forscher behaupten, die ersten Raumtemperatur-Supraleiter hergestellt zu haben. Ist das physikalisch möglich? Dieser Hintergrund hilft, den Fall einzuordnen.

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Screenshot aus einem von den Forschern veröffentlichten Video der Forscher, das "LK-99" schwebend auf einem Magneten zeigen soll.

(Bild: Screenshot)

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Inhaltsverzeichnis

Ein südkoreanisches Forschungsteam hat ein Preprint-Paper veröffentlicht, laut dem sie angeblich zum ersten Mal ein Material hergestellt haben, das bei Zimmertemperatur elektrischen Strom ohne Verlust leitet. In Forschungskreisen herrscht seitdem eine Riesen-Aufregung – allerdings auch ein gehöriges Maß an Skepsis. Denn einerseits wäre die Entdeckung eines solchen Materials nicht nur wissenschaftlich, sondern auch technisch ein riesiger Durchbruch. Andererseits gab es in den vergangenen Jahren eine Reihe von Ankündigungen auf diesem Gebiet, die sich dann doch als unhaltbar erwiesen.

Der mitunter leidenschaftlich ausgetragene Streit über angebliche große Entdeckungen, Patente, Rezepte für die Herstellung neuer Materialien, Messdaten und Reproduzierbarkeit von Ergebnissen hat seine Ursache in einer simplen Tatsache: Zwar ist seit mehr als hundert Jahren bekannt, dass es Supraleiter gibt. Doch laut der Theorie, die erklärt, warum ein Material unterhalb einer gewissen Temperatur supraleitend wird, dürfte es eigentlich keine Hochtemperatur-Supraleiter geben. Es gibt sie aber dennoch – zumindest gibt es Materialien, die bereits bei Kühlung mit Stickstoff supraleitend werden. Warum sollte es also keine Raumtemperatur-Supraleiter geben?

1911 machte der holländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes eine verblüffende Entdeckung: Er stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass Quecksilber schlagartig seinen elektrischen Widerstand verliert, wenn es unter -269 Grad Celsius gekühlt wird. 1914 demonstrierte Onnes zum ersten Mal, dass sich mit Hilfe eines Magnetfeldes in einer supraleitenden Bleispule ein ohne äußere Stromquelle dauerhaft fließender Strom induzieren lässt.

Wird ein Strom durch einen elektrischen Leiter – beispielsweise ein Kupferkabel – geschickt, so erwärmt sich dieser. Die Wärme entsteht, weil die den Strom transportierenden Elektronen nicht ungehindert durch das Kristallgitter hindurch kommen. Sie kollidieren mit den Gitteratomen und geben dabei einen Teil ihrer Energie an das Gitter ab.

Der Effekt lässt sich nur quantenmechanisch erklären. 1957 präsentierte das US-Forschertrio John Bardeen, Leon Cooper und J. Robert Schrieffer mit der BCS-Theorie ein Erklärungsmodell, für das sie 1972 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden: Elektronen in Supraleitern verbinden sich demnach zu "Cooper-Paaren" – grob ausgedrückt wie zwei Menschen, die sich ein ausgeleiertes französisches Bett teilen. Die Matratze deformiert sich und sie treffen sich dauernd in der Mitte des Bettes. Bei den Elektronen in Supraleitern funktioniert diese "anziehende Wechselwirkung‟ über eine Deformation des Kristallgitters.

Diese Elektronenpaare verhalten sich dann wie Bosonen, das heißt Teilchen mit einem ganzzahligen Spin, die nicht wie Elektronen dem Pauli-Verbot unterliegen. Sie dürfen daher den selben Energiezustand mehrfach besetzen, und das tun sie sogar bevorzugt: Eine der verblüffensten Eigenschaften von Bosonen ist, dass sie in bestimmten Zuständen "zusammenklumpen". Das gilt auch für die Cooper-Paare, die sich im supraleitenden Zustand gewissermaßen im Gleichtakt bewegen. Jeder Versuch, den Zustand eines Paares per Stoß zu verändern, gelingt nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit, sodass keine Energie an das Atomgitter des Festkörpers abgegeben wird – jedenfalls unterhalb einer gewissen Temperatur.

Als die Physiker Alexander Müller und Georg Bednorz 1986 am Schweizer IBM-Forschungslabor in Rüschlikon entdeckten, dass bestimmte Kupferoxide bei einer Temperatur von 35 Kelvin (-238 Grad Celsius) ihren elektrischen Widerstand aufgeben, lösten sie damit einen Boom aus. Im Frühjahr 1987 entdeckten ihre Kollegen eine ähnliche Verbindung - Yttrium-Barium-Kupferoxid – die sogar bei Temperaturen unterhalb von 93 Kelvin (-180 Grad Celsius) supraleitend wurde. Erstmals hatten die Physiker damit ein Material gefunden, das bereits bei Kühlung mit flüssigem Stickstoff supraleitend wird. Flüssiger Stickstoff ist sehr viel einfacher und kostengünstiger herzustellen als flüssiges Helium, zudem versprach die Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleiter weitere Möglichkeiten.

Auch in Hochtemperatur-Supraleitern bilden Elektronen Cooper-Paare. Allerdings muss es untypische Kopplungsmechanismen geben, die erklären, warum das bei genau diesen Stoffen und vergleichsweise hohen Temperaturen funktioniert. Bis heute gibt es weder eine Theorie, die dieses Verhalten erklärt, noch ein Kochrezept für weitere erfolgreiche Verbindungen dieser Art.

Schlimmer noch: Hochtemperatur-Supraleiter-Keramiken sind spröde und sehr schwer zu verarbeiten. Um daraus eine Art Kabel zu machen, dampft man dünne Schichten dieser Materialien auf Metall-Substrat auf. Hunderte solcher dünnen Bänder werden dann zu Kabeln verflochten – das ist allerdings extrem aufwendig und erfordert viel Know-how, lohnt sich also nur in Spezialfällen. Generatoren mit Spulen aus supraleitendem Material beispielsweise verfügen zwar über eine enorme Leistungsdichte. Ihr Einsatz ist aber in der Regel nicht wirtschaftlich. Hochtemperatur-Supraleiter werden daher bisher nur da eingesetzt, wo es technisch nicht anders geht. Das Fusions-Start-up Commonwealth Fusion beispielsweise hat damit einen Magneten mit 11 Tesla Feldstärke für seinen Reaktor hergestellt.

Per Definition ist ein Supraleiter ein Material, dessen Widerstand unterhalb der kritischen Temperatur auf Null fällt. Aber extrem kleine Größen sind sehr schwer zu messen. Wie unterscheidet man, ob der elektrische Widerstand winzig klein, oder gleich Null ist?

Zum Glück gibt es weitere charakteristische Eigenschaften, die Supraleiter auszeichnen. Bringt man nämlich Supraleiter in magnetische Felder, dringen diese nur bis auf eine dünne Schicht an der Oberfläche in sogenannte Typ-I-Supraleiter ein. Das magnetische Feld wird aus dem Supraleiter herausgedrängt (handelt es sich um einen Typ II-Supraleiter, wird die Sache komplizierter). Der Nachweis dieses "Meißner-Ochsenfeld-Effekts" gilt als wichtiges Indiz für Supraleiter. Ein weiterer Hinweise wäre der Nachweis eines kritischen Feldes, oberhalb dessen der Widerstand sprunghaft zunimmt. Und auch die Wärmekapazität von Supraleitern verhält sich anders als die klassischer Materialien: Im supraleitenden Zustand springt die Wärmekapazität bei der kritischen Temperatur auf einen deutlich höheren Wert und nimmt dann mit abnehmender Temperatur wieder ab.

Laut New Scientist gibt es für den typischen Verlauf der Wärmekapazität in den Daten keine Anzeichen. Andere Experten äußerten die Befürchtung, dass einige der Ergebnisse durch Fehler im Versuchsverfahren in Verbindung mit Unzulänglichkeiten in der Probe erklärt werden könnten.

Die Autoren gehen davon aus, dass Verzerrungen im Kristallgitter ihres Materials für "Quantenmulden‟ (Quantum Wells) sorgen, die für die Kopplung von Elektronen zu Cooper-Paaren sorgen. Zwischen diesen supraleitenden Quantenmulden, die zwischen 3,7 und 6,5 Ångström voneinander entfernt sind, könnten die Elektronen tunneln. Mit anderen Worten: Das Material ist nicht durchgängig supraleitend, sondern enthält kleine, supraleitende Inseln. Ob das die untypischen Messdaten wirklich erklärt, bleibt abzuwarten. Mittlerweile arbeiten diverse Forschungsgruppen daran, das Material nachzukochen und die Messungen zu reproduzieren. Bevor das nicht geschehen ist, bewegen wir uns im Reich der Spekulation.

(wst)