Weltklimarat: "Jedes Zehntelgrad wird wichtig"
Für das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels müssen bis 2030 Treibhausgas-Emissionen gesenkt werden. Der Weltklimarat zeigt, dass Synergien genutzt werden können.
Der am heutigen Montag veröffentlichte Synthesebericht des Weltklimarats IPCC zeigt viele machbare und wirksame Möglichkeiten auf, Treibhausgas-Emissionen zu mindern und sich an den menschengemachten Klimawandel anzupassen. Der IPCC-Vorsitzende Hoesung Lee sagt mit Blick auf die Politik: "Die Durchsetzung wirksamer und gerechter Klimamaßnahmen verringert nicht nur Verluste und Schäden für Natur und Mensch, sondern bringt weitere Vorteile mit sich."
Der Synthesebericht zum Sechsten Sachstandbericht wurde von 195 Mitgliedsländern auf einem Treffen in Interlaken einstimmig verabschiedet. Vergangene Woche hatten die hauptverantwortlichen Wissenschaftler und die Delegierten der Mitgliedstaaten dort mehrere tausend Seiten lange Berichte zu einer 36 Seiten umfassenden Synthese verdichtet. Dabei wurde um jede Formulierung gerungen. Basis dieser Arbeit sind die bereits erschienenen drei Teilberichte sowie drei Sonderberichte zum Sechsten Sachstandbericht.
Das 1,5-Grad-Ziel wird sehr wahrscheinlich gerissen
Die Herausforderung, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, hält der IPCC für "beispiellos". Sie ist noch größer geworden, weil in den vergangenen fünf Jahren die klimaschädlichen Emissionen weiter angestiegen sind. Nun müssen die klimaschädlichen Emissionen in allen Sektoren "tiefgreifend, schnell und nachhaltig" gesenkt werden. Schon jetzt sollten die Emissionen zurückgehen, bis 2030 müssen sie um fast die Hälfte gesenkt werden. Allerdings reichten die aktuellen Pläne der Regierungen, das Tempo und der Umfang der bisherigen Klimaschutzmaßnahmen nicht aus, betont der Weltklimarat in seiner Abschlusserklärung.
Der Geowissenschaftler und leitende IPCC-Autor Gerhard Krinner stellt klar, dass fast in allen physikalischen wie auch den sozioökonomischen Klimamodellen das 1,5-Grad-Ziel bis 2040 überschritten wird. In diesem Fall ist "mit massiven Risiken und Verlusten zu rechnen", warnt Matthias Garschagen von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied des Kernautorenteams des Syntheseberichts. Wenn dann etwa der Permafrost auftaue, werde eine Kehrtwende immer schwieriger. Auch bestimmte Anpassungen seien nicht mehr möglich – "das muss endlich verstanden werden", sagt Garschagen.
"Wir müssen anfangen, uns ernsthaft mit einer Welt jenseits der 1,5 Grad zu beschäftigen, weil wir auf sie zusteuern", sagt Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik und Mitglied des Kernautorenteams. Selbst wenn das Ziel überschritten werde, werde "jedes Zehntelgrad wichtig sein." Auf welchem Niveau auch immer müsse der Temperaturanstieg gestoppt und das System stabilisiert werden. Dazu seien "drastische Emissionsminderungen" bis 2030 notwendig.
Aktuell hat sich die Erde bereits auf 1,1 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau erwärmt. Die Folgen sind häufigere und intensivere Wetterereignisse. Erwärmt sich die Erde weiterhin, werden die Gefahren eskalieren, warnt der IPCC. In jeder Region sterben Menschen an den Folgen extremer Hitze. Klimabedingte Dürren werden zu noch mehr Ernteausfällen und Wasserknappheit führen. Kombiniert mit weiteren Risiken wie Pandemien oder Konflikten, wird es immer schwieriger, diese Risiken zu bewältigen.
Wer zahlt für die Schäden?
Allein in den jüngsten zehn Jahren starben 15-mal so viele Menschen in den stark gefährdeten Regionen durch Überschwemmungen, Dürren und Stürme. Am stärksten sind die Länder des globalen Südens von Dürren und Überschwemmungen betroffen. Sie verursachen schon jetzt jedes Jahr Schäden in Höhe von 2,4 Billionen US-Dollar, hatte der Expertenbericht Finance for Climate Action festgestellt.
Auf dem jüngsten Weltklimagipfel im ägyptischen Scharm el Scheich (COP27) hatten sich die Teilnehmer darauf geeinigt, einen Loss-and-Damage-Fonds einzurichten. Finanziert durch die Industrieländer, die historisch am meisten zum Klimawandel beigetragen haben, soll er die klimabedingten Verluste und Schäden finanziell ausgleichen. Die Details sollen auf der kommenden Weltklimakonferenz Ende 2023 festgelegt werden.
"Die Attributionsforschung kann inzwischen sehr genau einzelne Ereignisse und Schäden zuordnen", erklärt Matthias Garschagen. Im aktuellen Synthesebericht spielt sie zum ersten Mal eine Rolle. "Welche Relevanz sie in der Klimapolitik haben wird, werden wir in den nächsten zwei Jahren sehen," sagt Garschagen. Der neue Zweig der Klimaforschung basiert auf zwei Informationsquellen: zum einen auf numerischen Simulationen, mit denen ein beobachtetes Extremereignis reproduziert wird, zum anderen auf Wetterdaten, die es ermöglichen, die verschiedenen Aspekte des Ereignisses zu charakterisieren. Im Ergebnis lässt sich feststellen, welchen Anteil der Klimawandel an einem bestimmten Extremwetter-Ereignis hatte. Entsprechend kann sich der finanzielle Ausgleich an den Berechnungen der Attributionsforschung orientieren.
Im Zentrum wirksamen Klimaschutzes sieht der Weltklimarat urbane Räume: Wenn sich Menschen anders ernähren und fortbewegen, anders wohnen und heizen und auch anders produzieren, würde das auch ihre Gesundheit und Wohlbefinden verbessern. Würden die Menschen überdies verstehen, was übermäßiger Konsum verursacht, könnten sie fundiertere Entscheidungen treffen.
Weltklimarat zeigt Synergien auf
Im Synthesebericht achteten die Wissenschaftler darauf, die Erkenntnisse nicht nur zusammenzufassen, sondern auch miteinander zu verbinden. So betonen sie mögliche Synergien von Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen. Zum Beispiel können Pläne zur Aufforstung von Wäldern und Wiedervernässung von Mooren, die als CO₂-Senken dienen, mit Plänen zu Hochwasser-Rententionsflächen und Naherholungsräumen verbunden werden. Auch nützt der Zugang zu sauberer Energie und Technologien der Gesundheit von Frauen und Kindern.
Nicht in allen Bereichen seien Synergien möglich, sagt Garschagen, es gebe auch Konflikte, "aber verschiedene Krisen wie Klimakrise, Biodiversitätskrise, Armutskrise, Energiekrise müssen stärker zusammengedacht werden". Im Vergleich zum vorigen Synthesebericht vor acht Jahren habe sich die Diskussion deutlich weiterentwickelt. "Ich denke schon, dass in der Politik das Verständnis gewachsen ist, Krisen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie gemeinsam anzugehen". Deshalb seien synergetische Maßnahmen so wichtig.
Finanzflüsse umlenken
Gleichzeitig würden beschleunigte Klimamaßnahmen nur möglich sein, wenn die Finanzmittel vielfach erhöht werden. Christopher Trisos, einer der Autoren des Syntheseberichts, stellt klar: "Unzureichende und unausgewogene Finanzmittel behindern den Fortschritt." Zwar gebe es genügend globales Kapital für Klimainvestitionen, doch noch fließt zu viel Geld in Systeme, die auf fossilen Energien beruhen. Die Regierungen müssten mit öffentlicher Finanzierung klare Signale an die Investoren senden. Investoren, Zentralbanken und Finanzaufsichtsbehörden könnten ihren Teil beitragen.
Wenn Technologie, Know-how und geeignete politische Maßnahmen genutzt und angemessene Finanzmittel bereitgestellt werden, könne jede Gemeinschaft den kohlenstoffintensiven Verbrauch reduzieren oder vermeiden. Gleichzeitig könnten mit erheblichen Investitionen die steigenden Risiken mit Anpassungsmaßnahmen abgewandt werden. Dazu gehöre eine wirksame und gerechte Erhaltung von etwa 30 bis 50 Prozent des Landes, des Süßwassers und der Ozeane der Erde. Erst im Dezember 2022 hatte sich der Weltbiodiversitätsrat auf ein Erhaltungsziel von mindestens 30 Prozent in einem neuen UN-Naturschutz-Abkommen geeinigt.
(anw)