Internes Gutachten: Autobahnüberwachung in Brandenburg ist unzulässig
Experten kamen im Auftrag des brandenburgischen Innenministeriums zu dem Schluss, dass das ständige Scanning von Kfz-Kennzeichen rechtlich nicht haltbar ist.
Die Praxis der Polizei in Brandenburg, mithilfe von Kfz-Kennzeichen-Scannern täglich den kompletten Autoverkehr an festen Standorten zu überwachen und die Daten zu speichern, ist mit den dafür angewendeten Gesetzen nicht vereinbar. Zu dieser Einschätzung kam eine Gruppe von Sachverständigen im Auftrag des brandenburgischen Innenministeriums Anfang Juni. Die permanente Aufzeichnung und unbegrenzte Speicherung der Nummernschild-Daten sei unverhältnismäßig. Es hätte zumindest "klare Löschfristen geben müssen".
Keine Carte Blanche
Um die Schwere des Eingriffs in die Grundrechte der Betroffenen zu beschränken, dürften die erhobenen Daten den Strafverfolgern nicht einfach für andere Ermittlungsverfahren überlassen werden, heißt es weiter in dem jetzt von Netzpolitik.org veröffentlichten Gutachten. "Auch hätte man die Datenerhebung zeitlich und örtlich in Abhängigkeit vom Ermittlungsstand schrittweise präzisieren müssen." Die Maßnahme müsse zudem jeweils im Einzelfall begründet werden.
Der "Aufzeichnungsmodus in der aktuellen praktizierten Form" lässt sich den Experten zufolge nach den vorliegenden Unterlagen nicht auf Paragraf 100h Strafprozessordnung (StPO) stützen, wie es die Strafverfolger in Brandenburg täten, lautet das Resümee. Laut der Norm dürfen im Kampf gegen Delikte "von erheblicher Bedeutung" unter gewissen Voraussetzungen durch technische Mittel "Bildaufnahmen" außerhalb von Wohnungen hergestellt werden. Die Gutachter zweifeln an, ob die "csv-Datei, in der nicht nur die Bildaufnahme der Kennzeichentafel, sondern die Zeichenfolge selbst mit Zeit, Ort und Fahrtrichtung tabellarisch und recherchierbar abgelegt wird", überhaupt unter die Klausel fällt.
Löschen, theoretisch
Das "theoretische beschriebene", in der Praxis aber noch nie eingesetzte Löschverfahren sei ebenfalls "nicht ausreichend", konstatieren die Prüfer. Daten einzelner Anlagen oder bestimmter Zeiträume, "die für die weiteren Ermittlungen im Anlassverfahren nicht mehr erforderlich sind", müssten prompt gelöscht werden. Da es für die Daueraufzeichnung mit dem "Kesy" getauften System nur einen einzigen Observationsbeschluss des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) gebe, wäre es naheliegend, den aufgelaufenen Bestand zu reduzieren.
Aktuell sind in der zugehörigen zentralen Datenbank alle mit Kesy erfassten Kennzeichen seit 1. April 2017 gespeichert, was insgesamt 40 Millionen Einträge ausmacht. Dass nur von diesem Termin an Scans verfügbar seien, liegt laut den Studienverfassern nur an einem behördlichen Missgeschick: Die aus dem Zeitraum davor seien einmal vom Server auf eine Festplatte nicht "kopiert", sondern komplett "verschoben" worden. Sie stünden seitdem nur noch in einem Verfahren direkt zur Verfügung und müssten für einen Einsatz in anderen Fällen erst jeweils gesondert "übermittelt" werden.
Vorerst außer Betrieb
Der zuständige Abteilungsleiter im Innenressort, Herbert Trimbach, hatte schon im Vorfeld des Gutachtens im Mai die Anweisung erlassen, den "Betrieb der Kennzeichenerfassungsgeräte im Aufzeichnungsmodus – soweit er derzeit unter Bezugnahme auf die übersandten Beschlüsse erfolgt – unverzüglich auszusetzen". Seine Begründung: Eine von Ermittlerseite vorgebrachte "Rahmenrichtlinie" ermögliche den Betrieb der Kennzeichenfahndung mit Vorratsdatenspeicherung nur für einen festgelegten Zeitraum bei Vorliegen eines richterlichen Beschlusses, der einen entsprechenden Einsatz auch "ausdrücklich beinhaltet". Dies müsse künftig vorab sichergestellt sein.
Die brandenburgische Polizeispitze beharrte trotzdem auf der Ansicht, dass "Fehler bei der Anwendung" von Kesy "nicht feststellbar seien". Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) unterstrich, dass die erfolgreiche Aufklärung "schwerer grenzüberschreitender Eigentumskriminalität" vorangetrieben werden müsse. Dabei stelle "auch durch das wichtige Ermittlungsmittel der automatisierten Kennzeichenerfassungssysteme im Rahmen längerfristiger Observationen" insbesondere in einem Bundesland "mit einer langen Staatsgrenze nach Polen und mit mehreren bundesweit wichtigen Fahrzeugtransitstrecken nach Osteuropa einen wertvollen Beitrag zur Stärkung der Sicherheit der Bevölkerung" dar. Das Instrument sei zudem "seit vielen Jahren in Brandenburg angewandt und bislang von niemandem ernsthaft in Frage gestellt" worden.
Beamter versetzt, Gutachten umgeschrieben
Damit geht es Schlag auf Schlag: Trimbach wird versetzt, weil er angeblich an der Spitze einer anderen, zur Vorbereitung der Landtagswahl wichtigen Abteilung benötigt wird. Der Ministerialbeamte wehrt sich zwar dagegen und ist mit seiner Beschwerde mittlerweile beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg angelangt. Das ursprüngliche, noch nicht publik gemachte Gutachten wird trotzdem unter einem neuen Leiter umgeschrieben mit dem Tenor, dass die dauerhafte Kennzeichen-Speicherung "wichtig und unverzichtbar" sei. Zuvor hatte Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) das Instrument auch im Landtag verteidigt.
Noch anhängig ist eine Beschwerde eines Autofahrers vor dem Brandenburger Landesverfassungsgericht. Die mit Kesy gefütterte Bewegungsdatenbank schaffe die Gefahr, zu Unrecht in Verdacht zu geraten, und erzeuge einen ständigen Beobachtungsdruck, der mit herkömmlichen Ermittlungsmaßnahmen durch Ermittlungsbeamte nicht zu vergleichen sei, argumentiert der Kläger Marko Tittel von der Piratenpartei. Das Landgericht Frankfurt (Oder) hatte seinen Einwand zuvor nicht zugelassen, weil er nur "zufällig mitbetroffen" sei. (vbr)