Internet anno 2047: Zwischen IPv4, Quantentransport und Fax

Beim 100. Treffen schenkt sich die IETF Champagner ein und philosophiert über das Internet der Zukunft. Einige alte Zöpfe werden dann schon ganz schön grau geworden sein, aber immer noch nicht abgeschnitten.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 46 Kommentare lesen
Internet anno 2047: Zwischen IPv4, Quantentransport und Fax
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Monika Ermert

Die Internet Engineering Task Force sollte Dual-Use-Effekte, Kollateralschäden und generell Fragen der Ethik ihrer Technologien künftig mehr berücksichtigen. Das rieten der Columbia-Professor Henning Schulzrinne und Monique Morrow vom Institut für Internet und Gesellschaft der Humboldt-Universität. Die IETF hatte die Wissenschaftler gemeinsam mit dem japanischen Internet-Urgestein Jun Murai gebeten, anlässlich ihres 100. Treffens diese Woche in Singapur einen Blick auf das Jahr 2047 zu richten. Dann will sich die für TCP/IP und weitere zentrale Internetprotokolle verantwortliche Organisation zum 200. Mal treffen.

Erstaunlich dystopisch fiel der Blick in die Zukunft des Internet aus, bedenkt man, dass die IETF sozusagen die Schmiede des globalen Netzwerkens ist. Ja, das Internet wird alle Lebensbereiche umfassen, bestätigte Jun Murai. Die IETF müsse da allerdings noch etwas dafür tun, die verschiedenen Silos von der Medizintechnik bis zur Landwirtschaft aufzulösen und deren Communities zu den Netzwerkern zu holen. Ja, das Netz wird spätestens in 30 Jahren zur Grundversorgung wie Strom und Wasser gehören, sagte Schulzrinne, allerdings mit dem Effekt, dass die Ingenieursarbeiten daran so zum Standard gehörten, dass niemand mehr darüber nachdenke, wer hinter diesen Standards stehe.

Dunkler Ausblick vor hellem Hintergrund: Brian Trammell, Jun Murai, Henning Schulzrinne und Monique Morrow beim 100. IETF-Treffen.

Ein paar mutigere Blicke in Richtung Netz ohne IP warf Schulzrinne, der selbst seit den 1990er-Jahren regelmässig bei der IETF mitarbeitet. Für ein auf Quantentransport basierendes Internet braucht man TCP und IP zum Beispiel nicht mehr, und auch nicht, wenn Arbeiten wie das Brain Circuits Project (BCP) Früchte tragen.

Der Blick auf die möglichen Netzentwicklungen der Zukunft fiel bei Schulzrinne und Morrow überaus düster aus: Morrow warnte vor dem Protokoll-unterstützten Profilieren und Aussortieren ganzer Teile der Gesellschaft und vor der wachsenden Militarisierung im Cyberraum. Die Idee eines direkten Mensch-Netzwerk-Interfaces wie BCP hält sie für ethisch problematisch. Schulzrinne riet seinen Kollegen, den Suchtfaktor der technischen Entwicklungen mit zu bedenken. "Vielleicht sollten wir so entwickeln, dass die Technik weniger abhängig macht." Zu dieser Einsicht ist freilich einer der früheren Facebook-Chefs auch schon gekommen.

Auch ohne Glaskugel zu erkennen ist für Schulzrinne eine wichtige Veränderung für die Arbeit der Internetentwickler: Die Zeit, in der das Internet als Heilbringer individueller Ermächtigung und genereller Demokratisierung gesehen wurde, sind vorbei und auch die Zeit, in der Techniker sich als unzuständig für die Konsequenzen und mögliche Kollateralschäden erklären konnten. Der alte Wahlspruch, dass die IETF das Internet besser machen, bedürfe eines Updates: "Wir müssen das Internet für seine Nutzer besser machen."

Ethische Überlegungen müssen Teil des Standardisierungsprozesses sein, anerkannte auch Morrow, doch warnte sie gleichzeitig vor der viel beschworenen Politisierung und der Dominierung des Netzes durch immer weniger Player. In Bezug auf die Situation der Netzbetreiber gelange man 2047 vielleicht wieder da an, wo man 1986 gewesen sei, bei einem übermächtigen Monopolisten, ätzte Schulzrinne.

Die stärkere Konzentration des Telekommunikations- und Netzmarkt hat der IETF übrigens auch ganz aktuelle Zukunftssorgen beschert. Nach enormem Wachstum in den ersten Jahren auf bis zu 2000 Teilnehmer sinkt die Zahl inzwischen wieder. Sie pendelt sich gerade zwischen 1000 und 1200 ein.

Damit fehlt Geld in der Kasse, um die aufwändigen Treffen und die wachsende, aber auch besonders teure Remote-Teilnehmerschaft zu finanzieren. Fürs nächste Jahr hat das IETF Administrative Oversight Committee (IAOC) 900.000 Dollar mehr bei der ISOC angefragt, die ohnehin schon die Hälfte des geplanten 7-Millionen-Dollar-Budgets beisteuert. Darum, wie sich die IETF organisatorisch aufstellen und von der ISOC abgrenzen soll, wird gerade intensiv diskutiert.

Wird die Organisation also das Datum IETF 200 schaffen? Schulzrinne gab sich ehrlich unbesorgt, weil Technologien eine enorme Beharrlichkeit entwickeln können: "Das Fax stirbt nicht aus und ich rechne damit, dass 2047 sogar noch IPv4-Adressen unterwegs sind." (ea)