Missing Link: Die Kybernetik schlägt zurück

Seite 3: Der Nachlass des Instituts für Kybernetik

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Einer der umtriebigsten deutschen Kybernetiker war der Pädagoge und Mathematiker Helmar Frank (1933-2013). Er baute ab 1963 das in Berlin und später auch in Paderborn ansässige Institut für Kybernetik (IfK) auf und gab die Zeitschrift “Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaften” (grkg) heraus. Der Physiker und Informationswissenschaftler Horst Völz zeichnete auf der Tagung das Wirken von Helmar Frank nach und konnte dabei auch auf persönliche Begegnungen zurückgreifen.

Der von Wolfgang Ernst geleitete Lehrstuhl für Medientheorien der Humboldt-Universität hat 2015 die Redaktion der grkg übernommen und konnte sich 2017 den Nachlass des IfK sichern. Das ist eine bislang nur grob geordnete Sammlung von Büchern, Zeitschriften, Schautafeln, Manuskripten, Fotos und Tagebüchern, Folien, Dias, Disketten, Tonbändern, Videocassetten und Lehrmaschinen.

Institut für Kybernetik (3 Bilder)

Lehrautomatenentwicklung am Institut für Kybernetik
(Bild: Nachlass IfK, HU)

Die Medienwissenschaftlerin Maria Priebe erläuterte in ihrem Tagungsbeitrag die Ergebnisse einer ersten Sichtung und dokumentierte die glückliche Bergung. Eine kleine Ausstellung präsentierte anregungsvoll Teile des Nachlasses. Dabei fiel der zwanglose Umgang mit den Exponaten angenehm auf: Anfassen, auspacken und ausprobieren war ausdrücklich erlaubt. Ganz klar geht es dieser Medienwissenschaft um Vergegenwärtigung, nicht um Musealisierung.

Ein Schmuckstück der Sammlung ist der Modellrechner, kurz MORE, gebaut um 1973 in Paderborn. Der Computerarchäologe Stefan Höltgen zeigte anhand dieses kaum dokumentierten Unikats, wie Medienwissenschaft an der HU Berlin betrieben wird: Er identifizierte und testete elektronische Bauteile und ICs, rekonstruierte eine exotische Rechnerarchitektur und deren Opcodes – alles mit nur einem Ziel: Die Kiste wieder zum Laufen zu kriegen, sie zu programmieren, kurzum, ihre Schaltungen zu Vergegenwärtigen.

Der Modellrechner MORE (4 Bilder)

Der Modellrechner MORE
(Bild: HU)

Ein zentrales Anliegen des IfK war die Anwendung kybernetischer Modelle auf die Pädagogik, vor allem in Form von algorithmisch gefassten Lernprogrammen, manifestiert auf Papier und in Maschinen. Der Informatiker Niels Pinkwart lieferte zunächst eine Übersicht der Funktionen heutiger digitaler Lern- und Lehrmedien. Er benannte unter anderem die multimediale Repräsentation von Sachverhalten und die interaktive Simulation von Lerngegenständen. Wesentlich ist auch die Unterstützung von Gruppenlernformen und die Möglichkeit des ortsunabhängigen Lernens einerseits und der Ortbezogenheit etwa durch Augmented Reality-Inhalte andererseits.

Als ursprünglich kybernetisch identifizierte Pinkwart die “individuelle Unterstützung von Lernenden bei der Konstruktion ihres Wissens durch Adaptierbarkeit”. Diese Funktion digitaler Lernmedien ist eine Antwort auf ein bekanntes Problem des frontalen Unterrichts: Manche Lernenden sind durch ein für sie zu schnelles Fortschreiten im Lernstoff überfordert, andere wiederum langweilen sich. Auf individuelle Verständnisschwierigkeiten kann oft nicht eingegangen werden. Adaptive Lernprogramme hingegen schreiten mit jeweils individuellem Tempo voran und können Vertiefungen und Wiederholungen erfolgsabhängig anbieten.

Robbimat (4 Bilder)

Broschüre zum Schulungssystem ROBBIMAT
(Bild: Nachlass IfK, HU)

Die Bildungshistorikerin Sabine Reh positionierte sich deutlich kritisch zur kybernetischen Pädagogik der Sechzigerjahre. Aktuellen Forderungen nach einer Digitalisierung der Schulen mittels teurer Hardware begegnete sie mit dem Hinweis auf Larry Cubans Buch "Oversold and underused". Computer würden in Klassenraum oft weniger genutzt, als von Verwaltung und Industrie geplant und erwartet.

Reh nannte Planungseuphorie, Glauben an einen technisch machbaren Fortschritt, die Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und Lehrermangel als Triebfedern der kybernetischen Pädagogik der Sechzigerjahre. Als einen wesentlichen Grund für die Aufgabe kybernetischer Ansätze seit Mitte der Siebzigerjahre vermutete sie eine Unvereinbarkeit von Formalisierungs- und Objektivierungsansprüchen mit grundlegenden pädagogischen Prinzipien.

Die im Nachlass des IfK vorhanden Lernautomaten und deren Dokumentation verblüffen in der Tat durch eine Unterkomplexität, die in einem deutlichen Missverhältnis zu den intellektuellen Höhenflügen der Kybernetik steht. Schüler bekommen Fragen präsentiert und drücken auf “Ja” und “Nein”-Knöpfe. Aus der Perspektive dieser Maschinen bedeutet Lernerfolg, dass Schüler die jeweils richtigen Knöpfe drücken.

Promentaboy (3 Bilder)

Der Lehrautomat Promentaboy: rechts unten das verdeckte Antwortfeld
(Bild: HU)

Ein solches Konzept von Wissensvermittlung lässt sich leicht schon mit Bordmitteln der Kybernetik angreifen. Heinz von Foerster prägte die Unterscheidung von trivialen und nichttrivialen Maschinen. Der Output einer nichttrivialen Maschine auf einen bestimmten Input ist nicht voraussehbar, da er auch abhängig von inneren Zuständen der Maschine ist. Eine triviale Maschine hingegen operiert konstant, reagiert auf einen gleichen Input mit dem jeweils gleichen Output. Von Foerster kritisierte, dass manche Lehrern offenbar ihre Schüler in triviale Maschinen verwandeln wollten.

Die von Pinkwart gezeigten Beispiele für heutige adaptive digitale Lernmedien (JavaFIT, LUMILO) scheinen der Komplexität von Lernsituationen schon eher gerecht zu werden. Den Nutzen solcher Werkzeuge stellte Reh nicht in Abrede. Sie merkte allerdings an, dass die Beobachtung und Berücksichtigung individueller Lernfortschritte prinzipiell auch mit analogen Materialien und Methoden umsetzbar ist. Konkret allerdings zeigt sich da, wo dieses, etwa an Grundschulen unter dem Begriff "Lernbüro", geschieht, dass solche Unterrichtskonzepte für die Lehrkraft sehr viel aufwändiger als frontaler Unterricht sind. Meist reicht die Zeit nicht aus, um allen Schülerinnen und Schülern die notendigen Rückmeldungen zu geben – letztlich hängt der Erfolg also von der personellen Ausstattung der Schulen ab.

Zuletzt konstatierte Reh eine grundsätzliche Schwierigkeit, angesichts der Komplexität des Geschehens im Klassenraum mittels empirischer Forschung unterschiedliche "Lerndesigns" als besonders effektiv zu identifizieren. Als eindeutig dem Lernerfolg förderlich hätte sich hingegen eine ausreichende Motivation, vor allem “garantierte Aufstiege durch Bildung” erwiesen.

Die Tagung präsentierte einen inspirierenden und facettenreichen Überblick kybernetischer Traditionslinien und aktueller Präsenzen etwa in Lern-Apps, autonomen Fahrzeugen und sozialen Netzwerken. Kybernetik adressiert das “schaltbare” im Menschen. Wie weit der Mensch allerdings im Schaltbaren aufgeht, darüber lässt sich trefflich streiten. Dass er sich gern in algorithmische Prozesse einbinden lässt, ist hingegen offenkundig. Insofern erscheint eine von van Treeck vorgeschlagene Aktualisierung kybernetischen Denkens in der Tat als sinnvoll. Wie jede andere Theorie auch muss die Kybernetik die Grenzen der eigenen Beschreibungsfähigkeit allerdings mitdenken. Um es mit Paul Watzlawik zu sagen: "Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel." (mho)