Digital Innovation Model: In neun Schritten zum funktionierenden Softwarekonzept

Seite 2: Beispielprojekt

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Die Firma Abellio Rail betreibt verschiedene Nahverkehrsstrecken in Deutschland und plant, diese in Zukunft deutlich auszubauen, so mit dem Saale-Thüringen-Südharz-Netz in Mitteldeutschland. Speziell dazu möchte es mit kundenfreundlichen digitalen Services bei den Fahrgästen punkten. Mit dem D-Model wurden deshalb die Erfolgsfaktoren eines neuen benutzerfreundlichen Ticketautomaten in einem halbtägigen Workshop erarbeitet.

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Disclaimer

Der Autor ist Entwickler des Digital Innovation Model und des gleichnamigen Buchs. Das Unternehmen des Autors hat die Abellio Rail bei der Konzeption des Ticketautomaten-Prototypen beraten.

Die Planung beginnt selbstverständlich bei der Idee. Während in der Regel häufig die Idee als gesetzt gilt und alle weiteren Aspekte des Projekts um sie herum formuliert werden, hat das D-Model einen anderen Ansatz. Die Idee wird erst einmal auf Herz, Nieren und Nutzersicht geprüft und angepasst. Im Zweifelsfall kann sie bereits in der Planungsphase verworfen werden, bevor viel Geld verbrannt wird. Die drei wichtigsten Fragen in diesem Schritt sind:

  • Was sind die Aufgabe und die Ziele der Innovation sowohl aus Unternehmens- als auch aus Nutzersicht?
  • Wie unterstützt die Innovation die Anwender?
  • Was fehlt der Welt, wenn die Innovation nicht umgesetzt wird?

Im Fall von Abellio war das Ziel, dem Kunden einen möglichst einfachen, bedienungsfreundlichen Ticketautomaten anzubieten. Dieser sollte den Ticketkauf am Automaten attraktiver gestalten und so einen Wettbewerbsvorteil generieren. Um diesen Anspruch zu verstehen und weiter zu konkretisieren, wurden in den ersten Schritten der Status quo sowie die Anforderungen der Zielgruppe analysiert.

Es gilt, den Abgrund zu überwinden - die Early Adopters beweisen dem Massenmarkt die Praxistauglichkeit (nach Everett M. Rogers; aus Stephan Preuss "Digital Innovation Model - Software planen, die Nutzer lieben", S. 70) (Abb. 3)


Die Zielgruppenanalyse ist die wichtigste Voraussetzung, um aus einer Idee eine benutzbare Anwendung zu machen. Dabei ist nicht zwangsläufig der direkte Weg der effektivste. Natürlich möchte man mit einer Innovation auf den Massenmarkt oder (bei einem internen IT-Projekt) die gesamte Belegschaft erreichen. Im Lebenszyklus eines Produkts gibt es jedoch immer Schlüsselfiguren, die über die Akzeptanz und Verbreitung einer digitalen Innovation entscheiden.

Diesen sogenannten Influencern oder Early Adopters wird aufgrund ihrer Autorität in Bezug auf digitale Innovationen vertraut. Sie tragen durch Trendsetting, Geheimtipps, Analysen und Bewertungen die Neuheit in die Welt und empfehlen (oder vermiesen) es für den Massenmarkt. Kurz: Die erfolgversprechendste Zielgruppe hilft, das Produkt weiter zu verbreiten.

Bei der Identifikation des erfolgversprechendsten Nutzers sind deshalb vor allem folgende Fragen zu stellen:

  • Wie "tickt" der erfolgversprechendste Nutzer? Bei der Beschreibung ist hier nicht nur auf Daten wie Alter (in jeder Altersgruppe gibt es Innovationstreiber) zu achten und Gewichtung auf die Interessen und Werte zu legen. Es gilt, Klischees zu vermeiden.
  • Unterstützt der Nutzer es, ein Produkt weiter zu verbreiten?
  • Kann die Zielgruppe der erfolgversprechendsten Nutzer die Anfangsinvestition decken?

Es ist dabei sicherzustellen, dass alle Projektbeteiligten den Nutzer beziehungsweise die daraus abgeleitete Person kennen und gleichermaßen verstanden haben.

Abellio legte in der ganzen Projektphase großen Wert darauf, für mehrere Personen (Männer und Frauen über 55 Jahren, Gelegenheitsfahrer, Gruppenreisen und Pendler) den Kauf- und Beratungsvorgang im Vergleich zu den herkömmlichen Ticketautomaten anderer ÖPNV-Unternehmen einfacher zu gestalten. Die Nutzer sollen komplexe Tarifprodukte, die an anderen Automaten nur über
lange Bedienwege zu finden sind, in wenigen Klicks erwerben können. Somit konkretisierte sich die Idee eines Ticketautomaten, der zum Berater wird – sozusagen eine Zusammenführung von Kundencenter und Automat.

Eine digitale Idee, die sich durchsetzen soll, muss den Nutzern einen relativen Vorteil gegenüber den alternativen Angeboten geben. Dieser Anreiz muss sich an den Bedürfnissen des erfolgversprechendsten Nutzers und dessen Problemen mit dem Status quo orientieren. Es macht daher Sinn, Umfragen bei den Nutzern durchzuführen oder deren Bedürfnisse in den sozialen Netzen in Erfahrung zu bringen: Welche Probleme und Bedürfnisse nimmt die Zielgruppe selbst wahr? Welchen Aufwand haben die Nutzer aktuell, den man mit der Innovation minimieren kann? In welcher Situation ist dieser Bedarf am dringendsten?

Die projektbetreuende Handspiel GmbH befragte vor der Konzeptionierung des neuen Abellio Automaten deshalb mehrere Hundert Nutzer. In der Arbeit mit den Fahrgästen lernte das Unternehmen viel über die Bedürfnisse und Ärgernisse mit Automaten. Das größte Ärgernis war die hohe Komplexität, ein Ticket unter Zeitdruck zu kaufen.

Die Konservative - Christa Wagner, 64 Jahre, geringe Innovationsbereitschaft. So könnte eine prototypische Person für ein Produkt aussehen (Abb. 4).

Im vierten Schritt geht es darum, wie weitere Nutzer auf das digitale Produkt aufmerksam werden können (Diffusion). Für die erste Frage ist die Identifizierung der Kontaktpunkte relevant, für die zweite sind es die sozialen Netze der Nutzer. So werden Nutzer zu Diffusionsagenten, und die Innovation verbreitet sich von ganz allein. Die drei Stellschrauben sind "leicht zu testen", "leicht zu erkennen" und "leicht zu kommunizieren".

  • Was interessiert und regt Nutzer am meisten auf?
  • Wo ist die Zielgruppe anzutreffen?
  • Wie muss der Nachrichtenwert lauten, damit er weitergegeben wird?

Abellios Zielgruppe interessieren reibungslose, unkomplizierte Abläufe. Zur Aufregung führen vor allem verunsichernde Situationen. Der Nachrichtenwert ist somit ein Automat, der so gut berät wie ein Kundencenter sowie das Ticket zugleich schneller und preiswerter bereitstellt. Die Verbreitung erfolgt in diesem Fall durch Mundpropaganda und Erzählungen der Fahrgäste im beruflichen und privaten Umfeld. Besonders die einfache Startmaske "Hallo, wo soll es hingehen?" mit dem Eingabefeld und verständliche Verbindungsanzeigen mit Preisangaben sollen positive Erfahrungen ermöglichen.

Der erste Eindruck entscheidet über den Erfolg eines jeden digitalen Produkts – egal ob Smartphone-App, Online-Portal oder Desktop-Software. Insbesondere im mobilen Bereich gilt die oben erläuterte 10/30-Regel. Dabei beginnt das Erstnutzungserlebnis beim Erwerb. So können eine umständliche Registrierung oder eingeschränkte Bezahlmöglichkeiten, eine schwierige Installation oder ein langwieriges Einlernen eine Innovation bereits im Keim ersticken. Es gilt, den Nutzern in jeder Phase der Erstnutzung Komfort zu bieten.

  • Wie lassen sich die Zugangshürden reduzieren?
  • Wie erleichtert man der Zielgruppe das Erlernen der Funktionen?
  • Was ist die erste Belohnung?

Wichtig ist, dass die Abellio-Kunden ein erstes Erfolgserlebnis mit einer neuen Technik haben. Daher ist die Bedienoberfläche einfach gehalten. Der erste Kauf soll sich sicher, reibungslos und schnell anfühlen. Wie ein Bericht des MDR beim Prototyptest in Erfurt Januar 2015 zeigt, können die Nutzer in nur 17 Sekunden ein Ticket wählen. Im Vergleichstest ist man bei einem DB-Automaten noch bei der Eingabe des Ziels.

Die Nutzer geben neuen Produkten nur eine Chance. Umso wichtiger ist ein positives Erstnutzungserlebnis – wie beim Prototypen-Test am Erfurter Hauptbahnhof.

Eine digitale Innovation wird fast nie für die einmalige Nutzung entwickelt. Das Gewinnen neuer Nutzer ist aufwendig, sodass digitale Geschäftsprozesse erst rentabel werden, wenn diese regelmäßig genutzt werden. Es sind dauerhafte Anreize zu schaffen, damit die Nutzer immer wieder zurückkehren.

  • Welche dauerhaften Vorteile erhalten die Nutzer (sozial, ökonomisch, persönlich etc.)?
  • Wie lassen sich die Nutzer unterstützen, die Innovation in den Alltag zu übernehmen?
  • Wie kann man ein dauerhaftes Gefühl der Freude erzeugen?

Beim Abellio-Automaten greift vor allem das Erstnutzungserlebnis. Weiterhin haben die Nutzer einen ökonomischen Vorteil (Zeit) sowie soziale/emotionale Vorteile (Sicherheit, Befriedigung). Zusätzlich sind auf der Ticketrückseite Gutscheine für Getränke in der Diskussion.

Die Eigenschaften und Funktionen einer Innovation leiten sich direkt aus den vorhergehenden Schritten ab. Wichtig ist an dieser Stelle, die Alleinstellungsmerkmale (Killerfeatures) klar herauszuarbeiten. Dazu ist es sinnvoll, Nutzungsszenarien durchzuspielen.

  • Mit welchen Funktionen lassen sich die dringendsten Probleme und Bedürfnisse der Nutzer lösen?
  • Was sind die Killerfeatures?
  • Was wird die Nutzer begeistern?

Als Alternative zu den gängigen Möglichkeiten des Ticketkaufs der DB muss der Automat von Abellio Kundencenter und Automat verbinden. Neben einer E-Ticket-Funktion und einer 24-Stunden-Kundenhotline zu Servicemitarbeitern ist vor allem die "Sorglos-Suche" nach dem gewünschten Reiseziel die Kernfunktion. Der Automat kümmert sich um die richtigen Tarife und Preisberechnungen.

Manchmal ist weniger mehr. Das Interface des Abellio-Ticketautomaten wurde bewusst übersichtlich gehalten (Abb. 5).

Mit dem digitalen Wandel hat man es bei neuen Projekten immer mit Befürwortern, potenziellen Partnern und Gegnern zu tun. Es gilt, die bestmögliche Konstellation zu schaffen, um Projekte mit so wenig Aufwand wie möglich zu realisieren. Gerade bei internen Projekten (Stichwort: Digitalisierung von Geschäftsprozessen) gibt es häufig starke Diskussionspartner und Kritiker.

  • Wer sind mögliche interne und externe Unterstützer eines Projekts?
  • Welche Anreize können ihnen geboten werden?
  • Welche Nachteile und Risiken gibt es für welche
  • Interessengruppe?

Speziell für die Abellio-Automaten galt es, die jeweiligen Länder und die Aufgabenträger der Schienennetze zu involvieren. Das Projekt wurde von deren Seite mit hoher Aufmerksamkeit und Interesse verfolgt, schließlich verbessert es die regionale Mobilität. Auch im eigenen Haus galt es zu Beginn, die beteiligten Entscheider für das Projekt zu gewinnen, denn die Projektführung über das Digital Innovation Model war in dieser Form für das Unternehmen noch unbekannt.

Schließlich sind die Umsetzung sowie Kosten und Einnahmen zu evaluieren. Hier geht es nicht nur um das operative Geschäft, sondern auch um die Überlegung, wie sich beispielsweise die Entwicklungskosten gering halten beziehungsweise weiterverwenden lassen.

  • Welche Schritte sind notwendig?
  • Was sind die Initial- und laufenden Kosten?
  • Wie sieht eine mögliche (gewinnbringende) Einnahmestruktur aus?

Für das Automatenprojekt wurde erst ein minimal funktionierender Prototyp (minimum viable product, MVP) entwickelt, der bei der Zielgruppe unter Realbedingungen getestet wurde. Die Ergebnisse dieser Tests flossen nachfolgend in die finale Entwicklung des Ticketautomaten. Die Initialkosten wurden deshalb vorrangig in die Konzeption, Prototypentwicklung, den Test und die Testauswertung investiert. Die Einnahmen erfolgen über verkaufte Tickets, wobei in Abgrenzung zu den Mitbewerbern auf ein (begehbares) Service Center verzichtet wird. Der Automat selbst fungiert als Kundenberater.