EinfĂĽhrung in barrierefreie Software

Seite 2: Normen & Richtlinien

Inhaltsverzeichnis

Derartige MaĂźnahmen sind in Deutschland in verschiedenen Normen zum barrierefreien Bauen festgehalten, die teilweise direkt auf Basis der nationalen Gesetzgebung zur Gleichstellung Behinderter erstellt wurden. Damit schlieĂźt sich auch wieder der Kreis zur barrierefreien Software, da auch deren Umsetzung auf derselben Gesetzgebung beruht.

Leitsystem eines Bahnhofs fĂĽr Blinde (Abb. 6)

Das Behindertengleichstellungsgesetz und dessen äquivalente Gesetze auf Ebene der Bundesländer regeln jedoch nur, dass entsprechend angebotene und genutzte Software beziehungsweise Intranet- und Internet-Angebote barrierefrei sein müssen. Eine Konkretisierung erfolgt durch die "Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung" (BITV). Bei ihr gibt es zwei interessante Aspekte:

  • Sie ist nur fĂĽr Einrichtungen des Bundes und der Bundesländer verpflichtend (sofern durch entsprechende Landesgesetze vorgegeben). Die Privatwirtschaft ist hieran nur in Form von freiwilligen Zielvereinbarungen gebunden.
  • Es gibt keine technische Vorgabe fĂĽr die Realisierung der Barrierefreiheit. Es wird lediglich der Anwendungsbereich und die Zielsetzung definiert.

Barrierefreie Auskunft an einer Bushaltestelle (Abb. 7)

Taste zum Ansagen der Fahrplaninformation (Abb. 8)

Lautsprecher der Haltestellen-Information (Abb. 9)

Die Gesetze und Verordnungen sind durch das Ziel motiviert, behinderten Personen eine bessere Teilhabe am Leben und damit eine stärkere Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Das ist wichtig und richtig so. Allerdings unterstreicht die Gesetzgebung in Bezug auf die Informationstechnik wiederum den Eindruck, barrierefreie Software sei nur für die durch die Gesetze geschützten Personen, also die Behinderten, da.

Aber wer außer dem beschriebenen Personenkreis profitiert dann noch von barrierefreier Software? Der Schlüssel für die Antwort auf diese Frage liegt bereits im Begriff "barrierefrei" selbst. Er soll ausdrücken, dass dem Nutzer bildlich gesprochen keine Barrieren in den Weg gelegt werden, wenn er den Computer steuert oder Eingaben tätigt beziehungsweise wenn Informationen wieder zu ihm zurück gelangen sollen. Bei körperlich behinderten Personen sind derartige Barrieren vor allem motorische Störungen oder Probleme bei der Wahrnehmung, die sich direkt aus der Behinderung ergeben.

Denkt man diesen Ansatz konsequent weiter, ergeben sich aber weitere "Barrieren", die bei der Bedienung eines Computers zu einer mehr oder weniger großen Einschränkung führen können:

  • körperliche Einschränkungen, die nicht als typische Behinderung gelten,
  • Probleme bei der Wahrnehmung oder dem Verständnis von Inhalten sowie
  • technische Einschränkungen.

Im Unternehmensumfeld finden sich verschiedene Nutzerkreise, die durch diese Barrieren beeinträchtigt sind. Ihre Bedeutung als Kunden und Arbeitnehmer ist dabei unterschiedlich stark ausgeprägt, in jedem Fall sind sie jedoch für Unternehmen beachtenswert. Zur Vollständigkeit sei hier nochmals die Nutzergruppe der Behinderten
aufgefĂĽhrt.

  • körperlich behinderte Personen: Ihre speziellen BedĂĽrfnisse in Form von Hilfsmitteln zur Nutzung eines Computers wurden bereits beschrieben. Insbesondere in GroĂźunternehmen und Konzernen erfahren sie einen besonderen Schutz durch den Betriebsrat, weshalb in der Regel unternehmensintern genutzte Anwendungen besonders bezĂĽglich Barrierefreiheit begutachtet werden. FĂĽr Anbieter bedeutet das wiederum, eine barrierefreie Software anzubieten, um hier entsprechend berĂĽcksichtigt zu werden.
  • ältere Personen und Senioren: Diese Personengruppe wird aufgrund des demographischen Wandels zunehmend bedeutender. Die Anzahl der ĂĽber 50-Jährigen wird unter anderem wegen der niedrigen Geburtenraten und der gestiegenen Lebenserwartung steigen. Das hat zur Folge, dass zum einen hier eine Kundengruppe mit speziellen Anforderungen wächst, die bis vor wenigen Jahren noch keine groĂźe Aufmerksamkeit genoss. Zum anderen steigt gleichzeitig das Rentenalter, weshalb ältere Kollegen länger im Unternehmen bleiben. Ihnen machen insbesondere die typischen Alterserscheinungen zu schaffen: Eine langsamere Reaktionszeit, Verständnisprobleme bei der Bedienung neuer Anwendungen oder ganz trivial auch das Tragen einer Gleitsichtbrille erschweren die Arbeit am Bildschirm.
  • fremdsprachige Personen: Das Textverständnis stellt fĂĽr diese Nutzergruppe ein groĂźes Problem dar, wenn sie eine andere Muttersprache besitzen, die nicht von der genutzten Anwendung unterstĂĽtzt wird und ihre Kenntnis der Landessprache beschränkt ist. Das ist vor allem fĂĽr international agierende Unternehmen eine Herausforderung, da sie ihr Produkt, ihren Shop et cetera auf einem "fremdsprachigen" Markt platzieren wollen oder auch in ihren ausländischen Standorten die unternehmenseinheitliche Software nutzen.
  • Webcrawler und Bots: Diese Programme durchforsten das Internet oder andere Netzwerke, um gezielt Informationen zu sammeln. Ein Suchmaschinen-Crawler analysiert beispielsweise Webseiten auf deren Inhalt, um sie bei den entsprechenden Suchkriterien auf den Ergebnislisten einordnen zu können. FĂĽr diese Liste ist es wichtig, dass der Crawler nicht nur sämtliche Informationen erfassen kann, sondern auch deren Semantik erkennen und bewerten können muss. Ist das nicht möglich, weil etwa die eigentliche Information sich in einer Grafik oder Animation befindet, wird die Webseite bei den fĂĽr den Anbieter wichtigen Suchbegriffen nicht auf den oberen Plätzen stehen. FĂĽr kommerzielle Webseiten ist das ein grundlegender Aspekt des Search Engine Optimizing (SEO). Hier ist festzuhalten, dass der Google-Bot der aktivste "blinde" Nutzer im Internet ist.
  • Personen ohne sichtbare Einschränkung: Auch wer weder eine körperliche Behinderung besitzt noch unter Alterserscheinungen leidet, kann mit diversen Barrieren bei der Nutzung des Computers beziehungsweise dessen Software konfrontiert sein. Komplizierte und inkonsistente Dialoge erschweren das Verständnis fĂĽr die Lösung der Problemstellung, die durch die Software eigentlich unterstĂĽtzt werden soll. Das kann durch eine ungĂĽnstige Farbauswahl verstärkt werden, zumal mit rund 8 Prozent ein nicht unerheblicher Teil der männlichen Bevölkerung an einer Form der Rot-GrĂĽn-Sehschwäche leidet. Mit der Etablierung mobiler Endgeräte ist zudem Plattformunabhängigkeit beziehungsweise die Optimierung fĂĽr verschiedene Betriebssystem ein groĂźes Thema geworden. Funktioniert beispielsweise die App oder die Webseite auf dem Endgerät des Nutzers in diesem einen Moment nicht, in dem er sich "mal schnell" informieren will, sucht er sich einfach die nächste Alternative. FĂĽr Anbieter geht in diesem Fall Umsatz verloren, entweder als direkter Kauf oder als Werbeeinnahme.

Die möglichen Einschränkungen der Anwender sind also vielseitig, entsprechend viele Aspekte gilt es bei einer barrierefreien Anwendung zu berücksichtigen. Das World Wide Web Consortium (W3C) hat die wichtigsten gesammelt und in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) als Anforderungen dokumentiert. Diese Richtlinie ist zwar in erster Linie auf den Anwendungsbereich von Webseiten und -anwendungen ausgelegt, jedoch werden die einzelnen Aspekte technikneutral aufgegriffen, was in weiten Teilen auch eine Anwendung auf Desktop-Anwendungen ermöglicht. Beispielsweise wird in der WCAG beschrieben, dass Informationen nicht ausschließlich über Bilder, Farben oder andere Medien transportiert werden dürfen oder Dokumentstrukturen semantisch und strukturell valide sein müssen. Was es hiermit genau auf sich hat, wird später noch beschrieben.

Die einzelnen Anforderungen der WCAG sind nach den vier Prinzipien der Verständlichkeit, Wahrnehmbarkeit, Orientierung und Robustheit gegliedert, was die Zielsetzung der dadurch abgeleiteten Maßnahmen verdeutlicht. Sie decken auf abstrakter Ebene die zuvor beschriebenen Einschränkungen der Nutzer ab. Zudem lassen sich die Anforderungen in verschiedenen Erfüllungsgraden, den sogenannten Levels, umsetzen. Level A definiert dabei die grundlegende Barrierefreiheit, mit Level AAA wird eine umfangreiche Barrierefreiheit erreicht.

In ihrer alten Fassung stützt sich die erwähnte BITV explizit auf die WCAG 1.0, im Zuge ihrer Überarbeitung erfolgte auch eine überwiegend analoge Anpassung der BITV. Die Anwendungen und Webseiten, für die sie angewendet wird, müssen nach ihrer Vorgabe mindestens Level AA bei Navigationsbereichen und Level A bei sonstigen Inhalten erfüllen.

Im Übrigen lohnt es sich, einmal die WCAG neben Googles SEO-Richtlinien für Design und Inhalt zu legen. Letztere sind zwar konkret auf die Anwendung der Webtechniken ausgelegt, jedoch sind die Parallelen auf abstrakter Ebene in den Kernaussagen der beiden Richtlinien eindeutig. Das bestätigt die Ansicht, dass Webcrawler als technische Nutzer ebenso auf barrierefreie Anwendungen angewiesen sind.