Ausgleich von Mehrarbeit: Wichtige Tipps für Arbeitnehmer

Der Europäische Gerichtshof hat in einem aktuellen Urteil bestätigt, dass Beamte und Arbeitnehmer Anspruch auf Ausgleich von Mehrarbeit haben. Was harmlos klingt, hat weitreichende Folgen, wie Karsten Haase, Fachanwalt für Arbeitsrecht, erklärt.

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Von
  • Marzena Sicking
Inhaltsverzeichnis

Die zweite Kammer des Europäischen Gerichtshofs hat am 25.11.2010 entschieden (C - 429/09), dass Beamten bei einer Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden ein Anspruch auf Ausgleich zustehe, sei es in Form von Gewährung von Freizeit oder in Form von finanziellem Schadensersatz. Heise resale sprach mit Karsten Haase, Leiter des Fachausschusses "EU-Arbeitsrecht" des VdAA Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V., über die Folgen des Urteils für Arbeitnehmer in Deutschland.

Karsten Haase: Nein, Arbeitgeber können selbstverständlich keine unbezahlte Mehrarbeit verlangen. Das Arbeitsrecht ist Teil des sog. Schuldrechts. Auch im Arbeitsrecht gilt daher, dass für eine Leistung auch eine Gegenleistung folgen muss. Ansonsten wäre der Arbeitgeber, wie es die Juristen nennen, ungerechtfertigt bereichert.

Die Gegenleistung hat entweder in der Zahlung von Bruttoentgelt oder in Ausgleich durch entsprechende Freizeit zu erfolgen. Was davon zum Zuge kommt, ist anhand des jeweiligen Arbeitsvertrages, eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung zu klären.

Aber Achtung: Der Arbeitgeber kann in bestimmten Fällen die Erbringung von Mehrarbeit verlangen, aber – wie gesagt – nicht ohne Gegenleistung. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn entsprechende betriebliche Zwänge bestehen, beispielsweise, wenn ein wichtiger Großauftrag bearbeitet werden muss. Auch kann die Erbringung von Mehrarbeit beziehungsweise Überstunden tarifvertraglich geregelt sein.

Karsten Haase: Die Vergütung bzw. der Ausgleich von Überstunden oder Mehrarbeit ist wie folgt geregelt: Die Vergütung ergibt sich entweder aus dem jeweiligen Arbeitsvertrag, aus einem einschlägigen Tarifvertrag oder, wenn in einem Betrieb ein Betriebsrat vorhanden ist, aus einer Betriebsvereinbarung.

Ist nichts geregelt, dann erfolgt eine Abgeltung gesetzlich nach § 612 Abs. 1 BGB. Dabei ist das "normale" Bruttofestgehalt auf die einzelne Arbeitsstunde runterzurechnen und mit den mehr geleisteten Arbeitsstunden zu multiplizieren. Wird der Arbeitnehmer nach Stunden bezahlt, wie das zum Beispiel im Bereich des Hoch- oder Tiefbaus oder im Sicherungsgewerbe der Fall ist, so ist dieser Stundenlohn pro mehr geleisteter Arbeitsstunde zu veranschlagen.

Karsten Haase: Vorsicht ist geboten, wenn arbeitsvertraglich geregelt ist, dass mit dem Bruttogehalt sämtliche Mehrarbeit/Überstunden abgegolten sind. Hier bedarf es unbedingt der – gegebenenfalls anwaltlichen – Prüfung, ob solche Klauseln überhaupt wirksam sind.

Denn solche Klauseln sind nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu prüfen. Hier ist zum Beispiel das sogenannte Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu beachten. Dies bedeutet, dass Klauseln für ArbeitnehmerInnen verständlich (!) zu formulieren sind, was oft nicht der Fall ist. Wird nämlich geregelt, dass Mehrarbeit / Überstunden mit dem Bruttogehalt abgegolten sind, so ist eine solche Klausel in aller Regel intransparent und zu unbestimmt. Denn dann weiß der Arbeitnehmer nicht, wie viel Mehrarbeit oder Überstunden hiervon überhaupt erfasst sind.

Wird geregelt, dass sämtliche (!) Mehrarbeit oder Überstunden mit dem Bruttogehalt abgegolten sind, dann ist dies nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB eine unangemessene Benachteiligung und ebenfalls unwirksam. Denn mit einer solchen Klausel würden sich ArbeitnehmerInnen "versklaven" und – unter Berücksichtigung des monatlichen Bruttogehalts – gegebenenfalls für exorbitant geringe Stundenlöhne arbeiten, die zum Beispiel weit unter einem Tariflohn liegen.

Gegebenenfalls können Klauseln wirksam sein, wenn diese regeln, dass Mehrarbeit oder Überstunden bis zu einer geringen Anzahl mit dem monatlichen Bruttogehalt abgegolten sind. Denn dann kennt der Arbeitnehmer die Anzahl der Überstunden. Aber auch hier ist zu prüfen, ob eine solche Klausel nicht doch unangemessen benachteiligt, weil sich ein unangemessen niedriger Stundenlohn ergeben würde. Die Rechtsprechung ist hier nicht einheitlich.

Also ganz besonders wichtig: ArbeitnehmerInnen ist unbedingt anzuraten, solche Klauseln im Streitfall gegebenenfalls anwaltlich prüfen zu lassen.

Karsten Haase: In § 3 Abs. 1 Arbeitszeitgesetz ist geregelt, dass die werktägliche Arbeitszeit 8 Stunden nicht überschreiten darf. Aber Achtung: Das Arbeitszeitgesetz geht von einer 6-Arbeitstage-Woche aus, sodass gesetzlich 48 Arbeitsstunden pro Woche erlaubt sind.

Die Arbeitszeit kann auf 10 Stunden ausgedehnt werden, aber nur dann, wenn innerhalb von 6 Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Lässt ein Arbeitgeber daher werktäglich 10 Stunden arbeiten, so muss er innerhalb der genannten Zeiträume soviel Ausgleich geben, dass im Schnitt wieder 8 Stunden werktäglich erreicht werden. Dabei ist zu beachten, dass Sonn- und Feiertage und auch Erholungsurlaub als Ausgleichzeitraum ausscheiden.

Auch ist zu beachten, dass Tarifverträge bzw. Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vom Arbeitszeitgesetz abweichende Regelungen enthalten können.

Sie sehen: Zumindest rechtlich sind exorbitante Wochenarbeitszeiten eigentlich nicht möglich.

Wichtig: Das Arbeitszeitgesetz lässt in § 18 Ausnahmen für bestimmte Arbeitnehmer zu, z. B. für leitende Angestellte (dass ist nicht gleichbedeutend mit AT-Angestellten) oder für Mitarbeiter im liturgischen Bereich der Kirchen / Religionsgemeinschaften. Für solche Personen gilt das Arbeitszeitgesetz nicht! Gleichwohl kann man aber auch mit einem leitenden Angestellten nicht wirksam vereinbaren, dass sämtliche Mehrarbeit / Überstunden mit seinem Bruttomonatsgehalt abgegolten sind. Das Arbeitszeitgesetz regelt das öffentliche Arbeitszeitrecht. Die Abgeltung von Mehrarbeit / Überstunden betrifft das individualrechtliche Arbeitszeitrecht.

Karsten Haase: Bei arbeitgeberseitigem Zwang zu Mehrarbeit / Überstunden rate ich:

Sind z. B. betriebliche Gründe oder Notlagen gegeben, so muss Mehrarbeit auf Anweisung geleistet werden – aber nicht unbezahlt!

Wird Mehrarbeit nicht bezahlt, so sollte die Bezahlung auch arbeitsgerichtlich geltend gemacht werden. Aber Achtung: Die Anforderungen der Rechtsprechung sind hier zu Lasten der ArbeitnehmerInnen sehr hoch. ArbeitnehmerInnen müssen darlegen und auch beweisen, dass Mehrarbeit / Überstunden seitens des Arbeitgebers angeordnet wurden bzw. in Kenntnis und in Duldung des Arbeitgebers geleistet wurden. Arbeitnehmerinnen müssen des Weiteren auch darlegen und beweisen, wann sie welche Arbeit erbracht haben. Dies ist in der Praxis für länger zurückliegende Zeiträume fast kaum noch möglich. Ist ein Tarifvertrag einschlägig, dann müssen auch gegebenenfalls dort geregelte Ausschlussfristen beachtet werden, die je nach Tarifvertrag oft nur ein bis drei Monate betragen. Danach kann dann eine Abgeltung bzw. ein Ausgleich in Freizeit ausgeschlossen sein. Sie sehen: Eine Menge Hürden. Darum nicht lange warten und anwaltliche Hilfe nutzen.

In der Praxis besteht häufig auch die Furcht, dass ArbeitnehmerInnen dann ihren Arbeitsplatz verlieren, weil sie ihre Rechte in Anspruch genommen haben. Sollte dies der Fall sein, so muss konsequenterweise Kündigungsschutzklage erhoben werden. Die Wahrnehmung von berechtigten Rechten durch ArbeitnehmerInnen darf nicht zur Beendigung (Kündigung) des Arbeitsverhältnisses führen.

Weiterhin kann ArbeitnehmerInnen geraten werden, gegebenenfalls auch die Hilfe von Behörden (§ 17 Arbeitszeitgesetz) in Anspruch zu nehmen, die die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes kontrollieren. Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz können Bußgelder bis zu 15.000 Euro oder aber auch Freiheitsstrafen nach sich ziehen (vgl. §§ 22, 23 Arbeitszeitgesetz). (Marzena Sicking) / (map)

Zu den Details des EuGH-Urteils siehe auch:

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Mediator Karsten Haase studierte Rechtswissenschaften an der Albertus-Magnus Universität zu Köln. Im Anschluss daran absolvierte er sein Rechtsreferendariat beim Land- und Oberlandesgericht Düsseldorf. Seit Oktober 1995 ist er als Rechtsanwalt beim Amts- und Landgericht Düsseldorf zugelassen. Nach Beschäftigungen in wirtschaftsrechtlich ausgerichteten Kanzleien in Düsseldorf folgte im Dezember 1999 die Qualifikation eines Fachanwalts für Arbeitsrecht. Im Mai 2001 gründete er die Rechtsanwaltskanzlei Karsten Haase. Seit 2001 tritt Rechtsanwalt Haase regelmäßig in Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH auf. Ebenso verfügt er seit Dezember 2005 über die Qualifikation als Mediator (DAA). Nach Lehraufträgen für Arbeitsrecht an der Universität Dortmund (Wintersemester 2006/2007) und für Wirtschaftsprivatrecht an der Hochschule Niederrhein Mönchengladbach/Krefeld (Sommersemester 2007 und Wintersemester 2007/2008) ist Rechtsanwalt Haase nun seit dem Wintersemester 2007/2008 Lehrbeauftragter für Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule Düsseldorf. Seit dem Jahr 2008 leitet Rechtsanwalt Haase zudem auch den Fachausschuss für europäisches Arbeitsrecht des Verbandes deutscher Arbeitsrechtsanwälte (VdAA). (masi)