Europäischer Gerichtshof fordert Ausgleich für Mehrarbeit

Arbeitgeber können Mehrarbeit künftig nicht als selbstverständlich ansehen. Der Europäische Gerichtshof hat in einem aktuellen Urteil bestätigt, dass ein Ausgleich in Form von Geld oder Freizeit bei mehr als 48 Stunden Wochenarbeitszeit zwingend zu leisten ist.

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Von
  • Marzena Sicking

Die zweite Kammer des Europäischen Gerichtshofs hat am 25.11.2010 entschieden (Az.: C - 429/09), dass Beamten bei einer Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden ein Anspruch auf Ausgleich zustehe, sei es in Form von Gewährung von Freizeit oder in Form von finanziellem Schadensersatz.

Wie der Düsseldorfer Fachanwalt für Arbeitsrecht Karsten Haase, Leiter des Fachausschusses "EU-Arbeitsrecht" des VdAA Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Stuttgart, erklärt, ist das ein wichtiges Urteil für alle Arbeitnehmer. Denn die vom EuGH geführte Argumentation gilt nicht nur für Beamte: Das Gericht macht in seinem Urteil – wie auch schon in vorausgegangenen Fällen – keinen Unterschied zwischen Beamten und Arbeitnehmern.

Auch sei besonders bemerkenswert, so Haase, dass der EuGH in einem Sachverhalt wie dem vorliegenden finanzielle Ersatz- bzw. Entschädigungsansprüche als denkbar erwähnt. Dies könnte in weiteren Verfahren der vorliegenden Art zu einer Verfestigung in Richtung finanziellem Schadensersatz führen. Seiner Ansicht nach, mache es das aktuelle Urteil für deutsche Dienstherrn und Arbeitgeber künftig deutlich schwerer, Mehrarbeit in erheblichem Umfang einfach "unter den Tisch" fallen zu lassen.

Im zu Grunde liegenden Fall ging es um einen Beamten, der seit 1982 im Dienst der Stadt Halle stand, zuletzt seit 2005 als Hauptbrandmeister und Fahrzeugführer im Einsatzdienst "abwehrender Brandschutz". Seine wöchentliche Dienstzeit betrug durchschnittlich 54 Stunden, die in verschiedentlich aufgeteilten Schichten abzuleisten waren.

2006 hatte der Mann von den andauernden Überstunden genug und beantragte unter Berufung auf einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Juli 2005 (C 52/04, Slg. 2005, I 7111), dass seine wöchentliche Arbeitszeit künftig die in Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Höchstgrenze von durchschnittlich 48 Stunden nicht überschreiten dürfe. Zugleich machte er Ausgleichsansprüche für die von ihm geleistete und nach seiner Auffassung rechtswidrige Mehrarbeit geltend. Dabei wies er darauf hin, dass der eingeforderte Ausgleich entweder in Form von Freizeitausgleich oder als Mehrarbeitsvergütung gewährt werden könne.

Sein Arbeitgeber, die Stadt Halle, lehnte seinen Antrag jedoch unter Berufung auf einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom vom 17.10.2006 ab. Demnach werde ein Anspruch auf Freizeitausgleich erst ab einer entsprechenden Antragstellung, also nur für die Zukunft, ausgelöst. Dem Antrag des Mitarbeiters auf Gewährung von Freizeitausgleich für die seit Januar 2007 geleistete Mehrarbeit gab die Stadt Halle hingegen statt. Da er zwischenzeitlich in einen anderen Dienst versetzt und seine durchschnittliche Höchstarbeitszeit dort eingehalten wurde, sah sein Arbeitgeber keinen Anspruch auf Ersatz. Hiergegen legte der Mann Widerspruch ein, der vom Arbeitgeber zurückgewiesen wurde. Der Mitarbeiter erhob Klage vor dem Verwaltungsgericht (VerwG) Halle. Dieses sah nach nationalem Recht ebenfalls keinen Anspruch auf Freizeitausgleich oder Mehrarbeitsvergütung. Zugleich ergab sich für das VerwG Halle aber auch die Frage, ob sich ein Ausgleichsanspruch nicht aus der EU-Richtlinie 2003/88 ergeben könne. Aufgrund dessen hat das VerwG Halle die Angelegenheit dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt.

Der EuGH hat nun tatsächlich dahingehend entschieden, dass dem Mitarbeiter der von ihm geltend gemachte Anspruch grundsätzlich zustehe. Er begründet dies im Wesentlichen wie folgt: Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88, der den Mitgliedstaaten eine Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit vorgibt und die jedem Arbeitnehmer als Mindestanspruch zugutekomme, stelle nach Ansicht des EuGH eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Union dar, deren Reichweite nicht irgendwelchen Bedingungen oder Beschränkungen unterworfen werden dürfe und die den Einzelnen Rechte verleihe, die sie unmittelbar vor den nationalen Gerichten geltend machen könnten. Dabei verweist der EuGH, so Haase, konsequenterweise auf seine bisherige Rechtsprechung, nach der auch die Arbeitszeit, die von Bediensteten im Rahmen von Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst in Form persönlicher Anwesenheit des betreffenden Arbeitnehmers am Arbeitsort abgeleistet wird, unter den Begriff "Arbeitszeit" im Sinne der Richtlinie 2003/88 falle. Die Richtlinie 2003/88 stehe daher einer nationalen Regelung entgegen, die eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit vorsehe, die – da sie derartige Arbeitsbereitschaften und Bereitschaftsdienste umfasse – die in Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 vorgesehene wöchentliche Höchstarbeitszeit überschreite.

Der EuGH kommt, wie Haase konstatiert, daher zutreffenderweise zu dem Ergebnis, dass der geltend gemachte Anspruch auf Entschädigung, der seine Grundlage unmittelbar im Unionsrecht habe und dessen Voraussetzungen erfüllt seien, bestehe und im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben sei. Die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen dürften dabei weder weniger günstig sein als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen, noch so ausgestaltet sein, dass sie die Erlangung einer Entschädigung nahezu unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

Dabei könne einem Arbeitnehmer, dem wie im vorliegenden Fall durch den Verstoß seines Arbeitgebers gegen die Rechte aus Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 ein Schaden entstanden ist, nicht zugemutet werden, zuvor einen Antrag bei diesem Arbeitgeber zu stellen, um einen Anspruch auf Ersatz dieses Schadens geltend machen zu können. Denn ein solcher (vorheriger) Antrag verstoße gegen den Effektivitätsgrundsatz. Dabei berücksichtigt der EuGH auch, dass Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Union ist, von der ein Arbeitgeber mangels Umsetzung des Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie gegenüber einem Arbeitnehmer wie Herrn Fuß in keinem Fall abweichen könne. Denn der Arbeitnehmer sei als die schwächere Partei eines Arbeitsverhältnisses anzusehen, so dass verhindert werden müsse, dass der Arbeitgeber ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen könne. Denn aufgrund dieser schwächeren Position könne ein Arbeitnehmer durchaus davon abgeschreckt werden, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen. Eine solche Geltendmachung könne nämlich dazu führen, Maßnahmen des Arbeitgebers ausgesetzt zu werden, die sich nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirken könnten. So war es auch im Fall des klagenden Mitarbeiters geschehen, der aufgrund seines Antrags und damit der Geltendmachung seiner Rechte umgesetzt wurde.

Der EuGH stellt jedoch klar, dass, so Haase, der zu leistende Ersatz des Schadens, den einzelnen Arbeitnehmer durch Verstöße gegen das Unionsrecht zugefügt erhalten, dem erlittenen Schaden angemessen sein müsse. In Ermangelung von Unionsvorschriften auf diesem Gebiet sei es Sache des jeweiligen nationalen Rechts, unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes zu bestimmen, ob der Ersatz des Schadens, der einem Arbeitnehmer wie im Ausgangsverfahren durch den Verstoß gegen eine Vorschrift des Unionsrechts entstanden ist, in Form von Freizeitausgleich oder in Form einer finanziellen Entschädigung zu gewähren ist. Dies gelte auch für die Regeln hinsichtlich der Art und Weise der Berechnung der Anspruchshöhe. (Marzena Sicking) / (map)

Welche Bedeutung das Urteil für deutsche Arbeitnehmer hat und was Mitarbeiter, die ständiger Mehrarbeit ausgesetzt sind, tun können, lesen Sie im Interview mit Rechtsanwalt Karsten Haase. (masi)