"Tunnelblick" und "Lollipulation" in der IT-Branche

Vertriebstrainer Stephan Heinrich meint: Der Tunnelblick auf die Zahlen unter Missachtung des gesunden Menschenverstands kann nur in den Untergang führen.

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Von
  • Georg Schnurer

Am 27. März 2009 fragte unser Kolumnist Damian Sicking: "Sind Boni mit schuld am Preisverfall in der IT-Branche?" – Hier die Antwort von Vertriebstrainer und Channel-Experte Stephan Heinrich.

Channel-Experte Stephan Heinrich

(Bild: HMC)

Lieber Herr Sicking,

vielleicht wissen Sie, was man unter "Lollipulation" bezeichnet? Wenn ein Junge einen Lutscher will, dann kann er zur Mama gehen, sich auf den Boden werfen und so lange schreien, bis die Mama sagt: "Wenn Du aufhörst zu schreien, gebe ich Dir einen Lolli". Ähnliche Effekte können Sie jedes Wochenende an den Kassen der Supermärkte beobachten, wenn Teilzeiteltern versuchen, ihre Kinder an der Überraschungs-Ei-Pyramide vorbeizubugsieren. Da fragt man sich dann: Wer erzieht wen? Leider können Sie ähnliche Effekte auch in der IT-Branche beobachten.

1. Frage: Wer führt wen?

Soweit ich weiß, gibt es keine Quartalsziele für Einkäufer, die eine bestimmte Ordermenge vorschreiben. An dieser Stelle ist es also egal, ob der Auftrag am letzten Tag des Quartals oder am ersten Tag des Folgequartals gebucht wird. Für den Verkäufer – also den hier auch in der Diskussion stehenden Hersteller – aber nicht. Das ist ein Zielkonflikt und daher die klassische Voraussetzung für Manipulation: Wenn der Verkäufer seine Ziele erreichen will, muss er einen "Anreiz" schaffen, den der Kunde attraktiv findet. Weil Lutscher in der IT-Welt nicht ausreichen, ist es in diesem Fall das ein oder andere Prozentchen Rabatt.

Verwunderlich an dieser Stelle ist, dass gestandene Unternehmen – auf beiden Seiten – nicht in der Lage sein sollen, ohne diesen Unsinn ihre Geschäfte zu betreiben. Ist es wirklich notwendig, von außen so auf die Entscheidungen des Unternehmers einzuwirken? Schließlich weiß doch jeder: Erlöse minus Kosten ist Gewinn. Warum dann diese Karotte-vor-der-Nase-Nummer?

2. Frage: Warum nicht gleich?

Wenn Boni im Nachhinein bezahlt werden können, dann müssen Sie auch vorher schon in den Produktpreis des Herstellers eingerechnet sein. Sie werden also zurückgehalten. Warum eigentlich? Wie Sie ja schreiben, geht auch der Handel davon aus, dass die Boni gezahlt werden, und geht dazu über, die Boni in gewisser Weise in den Einkaufspreis einzubuchen. Dessen Verkaufspreise regeln sich zum einen durch den Markt und zum anderen durch den eigenen Anspruch an Gewinn. Weil also die Boni sowieso vorher eingerechnet werden, gibt es keinen Grund, sie nicht auch schon vorher auszuzahlen.

Im Gegenteil: Das Risiko, das der Händler eingeht, wenn er den Boni (aus welchen Gründen auch immer) doch nicht oder später als erwartet bekommt, ist die spontane Insolvenz. Bekanntlich kann man prima überleben, selbst wenn man ein paar Jahre keinen Gewinn macht. Aber Zahlungsunfähigkeit kann auch ertragsstarke Unternehmen töten. Also warum dann dieses Bonus-Theater, wenn es nix bringt, aber Risiken beinhaltet?

3. Frage: Ist Zeit Geld?

Welchen wirklichen, betriebswirtschaftlich motivierten Grund sollte es geben, bestimmte Umsatzzahlen unbedingt zu einem bestimmten Zeitpunkt zu buchen und nicht drei Tage später? Vielleicht wissen Sie, dass Herr Wedekind in seiner Funktion als Porsche-Chef vor einiger Zeit großen Wirbel verursacht hat, weil er sich weigerte, Quartalszahlen des Unternehmens zu veröffentlichen. Er war der Meinung, dass diese Art der kurzfristigen Orientierung an (wenigen) Unternehmensdaten eine Denkweise begünstigt, die bereits auf mittlere Sicht negative Effekte mit sich bringt. Ich meine, er hat Recht!

Die sklavische Orientierung an quartals- oder monatsweisen Kennzahlen, kombiniert mit daran gekoppelten (Manager-)Gehältern ist einer der wesentlichen Gründe für den aktuellen Zustand des weltweiten Finanzsystems. Der Tunnelblick auf die Zahlen unter Missachtung des gesunden Menschenverstands statt sinnvollem unternehmerischem Handeln, kann nur in den Untergang führen.

Fazit: Sei nicht dumm, sei schlau!

Die Kalkulation von Preisen sollte sich an unternehmerisch sinnvollen Gegebenheiten ausrichten. Dabei bin ich im Gegensatz zu Ihrem Vorschlag kein Verfechter des Einheitspreises. Gleichheit bedeutet nämlich nicht unbedingt Gerechtigkeit. Preisunterschiede sollten durch sinnvolle Handelsvorteile begründet sein. Warum sollte man es nicht belohnen, wenn der Handel in logistisch gegebenen Losgrößen (Paletten) abnimmt? Oder wenn er im Sinne der besseren (Produktions-)Planung verbindliche Vorbestellungen macht?

Wie war noch das bekannte Dobitsch-Zitat: "Der Hersteller soll herstellen und der Handel soll handeln." Vielleicht ist das ja auch ein Leitsatz für die Zeit, die vor uns liegt. Orientieren wir uns an dem, was wir gut können, nämlich Kunden verstehen und denen das liefern, was sie für gutes Geld verlangen können. Wer sich darauf konzentriert und aus dem Ergebnis seine Bestätigung schöpft, der braucht auch niemanden, der am Quartalsende mit dem Lolli winkt.

Schließlich schreiben Sie, Herr Sicking, seit Jahren anspruchsvolle Artikel und treffsichere Kommentare. Ich darf vermuten, das gelingt Ihnen, auch ohne, dass Sie durch ein Bonussystem für die Anzahl der geschriebenen Worte "motiviert" werden. Es wäre ja auch geradezu lächerlich, zum Beispiel einen Buchhalter für besonders hohe Bilanzsummen zu belohnen. Oder einen LKW-Fahrer für besonders viele gefahrene Kilometer. Wenn wir uns auf klare Zielvereinbarungen mit sinnvollen und erreichbaren Messkriterien besinnen, dann müssen wir auch nicht mehr mitansehen, wie der mancherorts sichtbare Mangel an Führungsqualität an die Bonusabrechnung delegiert wird.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, Herr Sicking, weiterhin eine frohe Schaffenskraft!

Stephan Heinrich (gs)