c't 5/2022
S. 132
Wissen
Hörgerätetechnik
Bild: Vibrosonic

Trommelfellvibrator

Hörkontaktlinse überträgt Klänge unverzerrt

Forscher haben eine Hörhilfe entwickelt, bei der ein kompakter Aktor direkt auf dem Trommelfell haftet. Die neue Technik soll Klänge über einen besonders weiten Frequenzbereich verstärken und verspricht so ein natürlicheres Hörerlebnis als herkömmliche Hörgeräte.

Von Arne Grävemeyer

Viele Hörgeräteträger klagen über Schwierigkeiten, Gesprochenes zu verstehen; ebenso geben viele an, Musik klinge für sie „blechern“. Die kleinen Hörgerätelautsprecher im Gehörgang können nur einen Ausschnitt der von Gesunden hörbaren Schallfrequenzen weiterleiten. Eine Innovation soll ein natürlicheres Spektrum übertragen können: Am Ende des Gehörgangs ist ein Vibrationsmodul platziert und bringt in direktem Kontakt das Trommelfell zum Schwingen. Feinste Mikrosystemtechnik vermittelt auf diese Weise Klänge in einem sehr weiten Frequenzspektrum, wie Forscher der Fraunhofer-Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie (PAMB) sowie der Universitäts-HNO-Klinik Tübingen untersuchten. Sie versprechen, mit der sogenannten Hörkontaktlinse Schallfrequenzen zwischen 80 Hertz und 12 Kilohertz übertragen zu können. Damit wäre ein weiter Bereich von den tiefen Tönen eines Musikstücks bis zu den Obertönen, die den Charakter einer Stimme ausmachen, abgedeckt.

Ursprünglich forschten die PAMB-Wissenschaftler Dominik Kaltenbacher und Jonathan Schächtele sowie Ernst Dalhoff an der Uni-Klinik Tübingen an einem verbesserten Schallwandler für eine implantierbare Hörlösung als Konkurrenzentwurf zur verbreiteten Cochlea-Technik [1]. Die Forscher dachten an einen Mikroschallwandler, der Signale eines Hörgeräts direkt an eine Membran der Hörschnecke (Cochlea) im Innenohr überträgt. So wäre ein neuartiges Hörimplantat entstanden, mit dem sich ebenfalls die winzigen Gehörknöchelchen im Innenohr umgehen ließen. Zudem ließe sich ein solcher Schallwandler operativ einsetzen, ohne die Hörschnecke eröffnen zu müssen. Einzelheiten zu der neuen Implantatidee sind noch nachzulesen in der Doktorarbeit von Dominik Kaltenbacher [2].

Erst später erkannten die Forscher, dass der Schallwandler sehr gut auch das Trommelfell stimulieren kann. Dazu muss ihn ein HNO-Arzt lediglich von außen direkt auf der Membran am Ende des Gehörgangs platzieren. Andere Hörgeräteformen sind auf einen Lautsprecher im Gehörgang angewiesen. Luft leitet ihren verstärkten Schall zum Trommelfell, wobei immer störende Rückkopplungen möglich sind. Die Hörkontaktlinse gibt deutlich weniger Schall in den Gehörgang ab, so können Rückkopplungen kaum auftreten.

Klangprozessor hinter dem Ohr

Das 2016 von den Forschern gegründete Unternehmen Vibrosonic mit Sitz in Mannheim hat inzwischen ein erstes komplettes Hörsystem mit Kontaktvibrator entwickelt. Das Vibrosonic alpha besteht aus drei Komponenten: Die Hörkontaktlinse als Kernelement hat nur einen Durchmesser von etwa sechs Millimeter. Damit fest verkabelt ist ein Gehörgangsmodul, das wiederum über einen magnetischen Stecker mit einer HdO-Einheit (Hinter dem Ohr) verbunden ist. In diesem größten Modul steckt der Klangprozessor samt Mikrofonen und einer Batterie.

Herzstück der Hörkontaktlinse ist ein kleiner Aktuator, der in eine individuell aufs Trommelfell passende Silikonform eingegossen wird.
Bild: Vibrosonic

Nach einem Scan des Trommelfells eines Patienten wird die Linse in eine individuell passende Silikonform eingegossen. Ein Facharzt setzt sie ein; sie haftet durch reine Oberflächenadhäsion, so lässt sie sich auch ambulant wieder abziehen. Gleichzeitig setzt der Arzt das Gehörgangsmodul ein, das mit der Hörkontaktlinse fest verbunden ist. Diese beiden Komponenten sollen nun im Ohr verbleiben, auch wenn der Träger den Klangprozessor einmal abstöpselt, um beispielsweise zu baden oder in die Sauna zu gehen.

Gegenüber anderen Hörgeräteträgern ist der Nutzer der Hörkontaktlinse dann aber etwas im Nachteil, denn der Aktor auf dem Trommelfell dämpft Geräusche bis drei Kilohertz um bis zu sechs Dezibel und höhere Frequenzen sogar um 10 bis 15 Dezibel. Eine weitere Hürde ist, dass sich der Einsatz der neuen Technik nicht für jeden eignen wird. Verletzungen am Trommelfell beispielsweise, zu enge oder verwinkelte Gehörgänge, Tinnitus oder chronische Ohrinfektionen gelten als Ausschlusskriterien. Regelmäßige Untersuchungen im MRT (Magnetresonanztomograph) sind ebenso problematisch, da der HNO-Arzt dafür jedes Mal alle Komponenten der Hörtechnik entfernen müsste.

Im Januar 2022 startete eine klinische Beobachtungsstudie in Zusammenarbeit mit dem Uniklinikum Mannheim sowie mit der Universitäts-HNO-Klinik Tübingen. Die Teilnehmer sollten bereits aufgrund einer leichten bis mittelgradigen Hörschädigung ein Hörgerät tragen. Sie bekommen Vibrosonic alpha zunächst für vier Wochen einohrig eingesetzt und im weiteren Verlauf über sechs Monate beidohrig. Parallel dazu will der Anbieter HNO-Ärzte und Hörgeräteakustiker ansprechen und ein Vertriebsnetz aufbauen. Ab Herbst 2022 soll die neue Technik für Interessierte verfügbar sein.

Trommelfell reagiert auf Licht

Kontaktlinsenartige Technik fürs Trommelfell gibt es bereits seit 2015 in den USA zu kaufen. Dort bietet Earlens ein System an, das ebenfalls aus drei Komponenten besteht. In diesem Fall sind allerdings die HdO-Einheit und das Gehörgangsmodul fest miteinander verbunden. Die aufgefangenen Schallsignale übersetzt der Audioprozessor im HdO-Modul in Infrarotlichtsignale, die das Gehörgangsmodul auf die Aktuatoreinheit strahlt. Dafür ist keine Kabelverbindung nötig und es entstehen auch hier so gut wie keine Rückkopplungen im Gehörgang.

Vibrosonic alpha ist mit einer abnehmbaren Hinter-dem-Ohr-Einheit konzipiert. Ein magnetischer Stecker verbindet diese mit dem Gehörgangsmodul (vorn rechts) und der Aktuatoreinheit (links).
Bild: Vibrosonic

Schon das Earlens-System verspricht eine große Frequenzbreite und wird in den USA als relativ hochpreisige Hörhilfe für über 10.000 Dollar pro Paar vertrieben. Weil HdO-Einheit und Gehörgangsmodul fest verbunden sind, entfernt der Träger vor dem Duschen oder zum Aufladen beide Komponenten gemeinsam. Bei Vibrosonic ist es dagegen nicht vorgesehen, dass der Träger das Gehörgangsmodul einfach selbst herausnimmt. Der Mannheimer Hersteller hat für seine Lösung noch keine Preise festgesetzt.

In Zukunft völlig unsichtbar

Allerdings tüfteln die Forscher bereits an der Nachfolgeversion Vibrosonic one. Diese soll statt einer Batterie einen wiederaufladbaren Akku enthalten und vor allem samt Klangprozessor und Mikrofonen komplett unsichtbar im Gehörgang verschwinden, ohne eine dritte Komponente hinter dem Ohr. Die Leistungsfähigkeit der Hörkontaktlinse bliebe von dieser konzeptionellen Änderung unberührt, ihre Stärken bleiben die große Frequenzbreite und die Schallübertragung fast ohne Rückkopplungen. Das neue Produktkonzept sieht außerdem vor, dass der Träger von Vibrosonic one die Gehörgangskomponente auch selbst herausnehmen kann.

In der Theorie ließe sich die Technik sogar noch weiter miniaturisieren: Bereits im Herbst 2019 hatte ein Verbund aus Fraunhofer-Instituten und Forschern der TU Berlin gemeinsam mit auric Hörsysteme, Vibrosonic und der Uni-HNO-Klinik Tübingen das Modell einer Hörkontaktlinse mit eingebauter wiederaufladbarer Batterie vorgestellt. Dieser Entwurf sah lediglich die Aktuatoreinheit auf dem Trommelfell als eigenständiges Hörgerät vor, Mikrofon und Klangprozessor sind darin integriert. Für dessen Energieversorgung konzipierten die Forscher eigens eine leistungsfähige Mikrobatterie aus dünnen Siliziumwafern. Dieses Projekt gilt heute als eine Herausforderung an die Mikrosystemtechnik und als ein Ausblick in die fernere Zukunft. (agr@ct.de)

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