MIT Technology Review 2/2016
S. 88
Meinung
Bücher

Tupfer, bitte

Von den Geburtsschmerzen der Königin Viktoria bis zu Einsteins Aneurysma – der Niederländer Arnold van de Laar reist mit 28 Diagnosen und ihren Patienten äußerst anschaulich durch die Geschichte der Chirurgie.

Arnold van de Laar: „Schnitt! Die ganze Geschichte der Chirurgie erzählt in 28 Operationen“ Pattloch Verlag, 432 Seiten, 22,99 Euro (E-Book 19,99 Euro)

Zwischen all dem Blut, Eiter und experimentellen Operationsmethoden kann es einem schon recht mulmig werden. Doch wagemutige Leser erwartet in Arnold van de Laars Buch eine unterhaltsame wie lehrreiche Lektüre. Die 28 Kapitel sind dabei mehr als bloße OP-Berichte. Der praktizierende Chirurg van de Laar nutzt die teilweise skurrilen Behandlungen von bekannten Persönlichkeiten, um die Entwicklung von operativen Eingriffen zu erklären.

Er gliedert die Kapitel nach einzelnen Diagnosen und wichtigen Aspekten der Chirurgie. So widmet der Autor ein Kapitel beispielsweise der Narkose. Ihre Einführung ermöglichte komplexere OP-Methoden. Zuvor galt unter Chirurgen die Kunst, schnell zu sein. Schließlich konnten die Helfer den wachen, angstvollen Patienten nur begrenzt festhalten. Es war Königin Viktoria von England, die 1853 das Zeitalter der Betäubung einläutete. Sie war es leid, die Qualen einer Geburt zu ertragen. Ihr Mann Albert zog nach dem siebten Kind den Arzt John Snow hinzu. Dieser qualifizierte sich als Verfasser eines Buchs über Äther und Chloroform sowie als Erfinder einer Maske, mit der letzteres verabreicht werden konnte. Dass Viktoria schmerzlos ihr achtes Kind bekam und sie von der Wirkung des Chloroforms hellauf begeistert war, öffnete der Narkose in Europa schließlich die Türen der OP-Räume.

In medizinisches Kauderwelsch driftet van de Laar bei seinen Ausführungen nicht ab. Er entschlüsselt unkompliziert Abkürzungen wie etwa das AAA, also das abdominale Aortenaneurysma, das der Chirurg Rudolf Nissen im Bauchraum seines Patienten Albert Einstein vorfand. Stents oder Gefäßprothesen kannte man 1948 noch nicht, Nissen griff stattdessen zu Butterbrotverpackung. Er umwickelte das Aneurysma mit Zellophan. Der Fremdkörper war biologisch abbaubar und ließ das Gefäß vernarben – was wiederum die gedehnte Aortawand stabilisierte und dem 69-jährigen Einstein noch sieben weitere Lebensjahre bescherte.

Infokästen ergänzen die Kapitel, auch wenn ihre Positionierung manchmal etwas rätselhaft ist. Zu Einstein beispielsweise hat sich einer zum Thema „Stiche und Knoten“ verirrt, obwohl bei seiner Zellophan-Behandlung das Nähen nicht so sehr im Fokus stand. An anderen Stellen gelang die Zuordnung besser. So etwa beim Schmied Jan de Doot aus dem 17. Jahrhundert, der seinen Blasenstein selbst entfernte. Der Infokasten erläutert Hippokrates’ Ansicht zu den sogenannten Steinschneidern, die sich deutlich vom Berufsstand des Arztes abgrenzen sollten. Bei de Doots DIY-Methode lässt van de Laar kein Detail aus: weder den Schnitt zwischen Skrotum und Anus, die stark blutende Wunde noch den beherzten Griff zum Blasenstein.

Ein Nerd-Bonus des Buchs: Im Nachwort zählt van de Laar die Top-10-Chirurgen aus der Science-Fiction auf. Leonard „Pille“ McCoy aus „Star Trek“ natürlich inklusive. JENNIFER LEPIES

Zeitgeist

Noch Mensch oder schon Maschine?

Neil Harbisson, der Cyborg, der wirklich etwas zu sagen hat, kommt kaum zu Wort: Alexander Krützfeldt klappert in seinem Buch „Wir sind Cyborgs“ vor allem die Entourage des britisch-irischen Künstlers ab. Der farbenblinde Harbisson entwickelte „Eyeborg“ – ein mit seinem Kopf verbundenes Gerät, das ihm ermöglicht, Farben zu hören – und avancierte zum Frontmann der Szene. Als Kopf der deutschen Peergroup fungiert Enno Park. Der Gründer des Berliner Cyborg-Vereins war nach einer Maserninfektion taub und kann dank eines Implantats wieder hören.

Krützfeldt jagt in seinem Buch dem Fantasy-Gespenst des Cyborgs hinterher. In lockeren Interviews mit Biohackern, Neurotechnikern, Geisteswissenschaftlern oder Selbstoptimierungsbegeisterten umkreist er den Begriff. Den Journalisten fasziniert die Idee von der Erweiterung der biologischen Möglichkeiten durch Technik oder gar die Verschmelzung von Mensch und Maschine. So angenehm sich die Plaudereien lesen: Mehr Präzision und Trennschärfe hätten nicht geschadet. inge wünnenberg

Alexander Krützfeldt: „Wir sind Cyborgs. Wie uns die Technik unter die Haut geht“. Blumenbar, 192 Seiten, 15 Euro (E-Book 11,99 Euro)

SCIENCE-FICTION

Clash der Kulturen

Deutschland im Jahr 2064 ist tief gespalten: Auf der einen Seite die hochtechnisierten Städte, in denen über die Rechte menschenähnlicher Roboter diskutiert wird. Auf der anderen Seite die „Freien Gebiete“, in die sich Öko-Bauern, Esoteriker, Anarchisten und Kriminelle nach der großen Revolution von 2048 zurückgezogen haben. Technik, die nach 1980 entwickelt wurde, ist hier unerwünscht.

Beide Lager beäugen sich misstrauisch, müssen aber kooperieren, als ein Roboter in den Verdacht gerät, eine Sängerin vergewaltigt zu haben. Aus diesem Clash der Kulturen, aus der Gleichzeitigkeit von Techno-Utopie und radikaler Technikverweigerung, bezieht der Zukunftsthriller von Martin Walker seinen Reiz. Er macht dem Leser bewusst, dass es keine linearen Trends sind, die unsere Zukunft bestimmen, sondern ein Wechselspiel mitunter gegenläufiger Entwicklungen.

GREGOR HONSEL

Martin Walker: „Germany 2064. Ein Zukunftsthriller“. Diogenes, 432 Seiten, 24 Euro (E-Book 20,99 Euro)

Science-Fiction

Popcorn-Kino für den Kopf

Jennifer Foehner Wells ist der neueste Shooting Star aus der Riege der Independent Publisher – also Autoren, die ihre Bücher über Amazon selbst vertreiben. In Deutschland hat sich nun der Heyne Verlag die Rechte an der Übersetzung gesichert. Mit „Die Frequenz“ liefert die Autorin ein geradezu klassisches SF-Szenario ab: Die Nasa entdeckt ein außerirdisches Raumschiff im Asteroidengürtel. Das Schiff sendet allerdings keinerlei Signale und reagiert nicht auf Funksprüche. Ein kleines Team von Militärs und wissenschaftlichen Experten fliegt los, um das Schiff zu untersuchen. Sie entdecken, dass es nicht völlig verlassen ist – einer der Aliens hat überlebt.

So weit, so bekannt. Allerdings gibt es bei Foehner Wells zwei Neuigkeiten: Erstens erzählt sie die Geschichte aus der Perspektive der Linguistin Dr. Jane Holloway. Zweitens legt sie viel Wert auf die Beziehungen zwischen ihren Figuren – inklusive der wahrscheinlich unvermeidlichen Liebesgeschichte. Das ist intellektuell nicht aufregend, aber solide Unterhaltung. Ein bisschen wie eine gute Fernsehsehserie zum Lesen – Popcorn-Kino für den Kopf.

WOLFGANG STIELER

Jennifer Foehner Wells: „Die Frequenz“. Heyne Verlag, 448 Seiten, 9,99 Euro (E-Book 8,99 Euro)