MIT Technology Review 8/2016
S. 88
Meinung
Bücher

Die Diplomatin der Medizin

Die Wissenschaftsjournalistin Jo Marchant zeigt in ihrem neuen Buch das Potenzial von Selbstheilungskräften. Dabei tritt sie als Vermittlerin zwischen Alternativmedizin und evidenzbasierter Medizin auf.

Jo Marchant: Heilung von Innen – Die neue Medizin der Selbstheilungskräfte Rowohlt Polaris, 416 Seiten, 16,99 Euro (E-Book 14,99 Euro)

Die golden schimmernde Silhouette eines Menschen, dazu eine zart-rosa Blüte und der Titel „Heilung von innen“ – zugegeben, in dieser Aufmachung könnte man das neue Buch von Jo Marchant nur allzu leicht in die Esoterik-Ecke stecken. Doch ließe man sich von der Optik täuschen, man würde ein fundiertes Sachbuch über die „neue Medizin der Selbstheilungskräfte“, wie das Werk im Untertitel heißt, verpassen.

Die britische Autorin ist nämlich alles andere als eine Frau, die nicht-greifbare Energiefelder verteidigt. Sie hat Medizin studiert und arbeitete als Redakteurin bei „Nature“. Mittlerweile schreibt sie als freie Journalistin für verschiedene Medien und ist Fachberaterin beim „New Scientist“. Gerade durch ihren wissenschaftlich geprägten Hintergrund erkennt sie – anders als viele Kritiker alternativer Heilmethoden – die Chancen, die in den Selbstheilungskräften des menschlichen Körpers liegen. Sie will vermitteln zwischen der evidenzbasierten Medizin und den Verfahren der Alternativmedizin. Ihre zentrale Frage: Kann der Geist den Körper heilen?

Zweifelsohne, der menschliche Körper hat Selbstheilungskräfte. Das lässt sich schon an der Schorfbildung an jedem Hautkratzer erkennen. Marchant aber dringt tiefer in die Fähigkeiten des Körpers ein. Sie beleuchtet im Reportagestil Krankheitsgeschichten, von der Wirbelsäule über Parkinson bis zu Verbrennungen, und beschreibt, wie ihnen etwa chirurgische Placebo-Eingriffe oder virtuelle Umgebungen geholfen haben.

Am Beispiel der Hypnosetherapie zeigt Marchant, wieso konventionelle und Alternativmedizin so schwer zueinanderfinden. Sie besucht dafür den Facharzt Peter Whorwell im britischen Manchester, Spezialist für das Reizdarmsyndrom. Er setzt nicht auf Medikamente oder die Entfernung von Teilen des Darms, sondern auf Hypnose, um die Darmmuskulatur zu entspannen – und erzielt damit seit Jahren erstaunliche Ergebnisse. Die so Behandelten verspüren weniger Symptome, nehmen weniger bis gar keine Medikamente und sind auch lange Zeit nach der Hypnosetherapie gesund. Doch die Behandlung passt nicht in das Raster der Verwaltungsbehörden, die für die Finanzierung zuständig sind. Sie lassen sich beispielsweise nicht mit Tests für Medikamente vergleichen. Folglich erreicht diese aussichtsreiche Therapie weder Betroffene noch Mediziner.

Marchants Plädoyer ist eindeutig: Der Weg zum Wohl des Patienten führt nicht über eine strikt auf die Physis fokussierte Behandlung. Sie könnte vielmehr Hand in Hand gehen mit Therapien wie Hypnose, Placebo-Einnahme und einer intensiveren Kommunikation zwischen Arzt und Patienten. JENNIFER LEPIES

Science-Fiction

Tod einer Diva

Der Traum der Menschheit vom ewigen Leben ist Wirklichkeit geworden: Dank Virtual Reality können Menschen als perfekte Kopien für immer weiterleben.

Mit „Unsterblich“ legt unser ehemaliger TR-Kollege, der Wissenschaftsjournalist Jens Lubbadeh, seinen Debütroman vor. Ein Debüt, das gleich mehrere brandaktuelle Trends aufgreift und überraschend fortschreibt.

Der Konzern Immortal erschafft aus Aufzeichnungen virtuelle Avatare von Verstorbenen. Per Hirnchip können die Lebenden diese „Ewigen“ wahrnehmen – sie werden nahtlos in die Umgebung eingefügt.

Auch Marlene Dietrich ist als Star wiederauferstanden und wird weltweit gefeiert – bis sie eines Tages spurlos verschwindet. Der Versicherungsagent Benjamin Kari soll die Umstände des Falles klären und findet heraus, dass die virtuelle Diva Selbstmordgedanken hegte. Eigentlich völlig unmöglich, denn die „Ewigen“ haben eine eingebaute Sperre: Jeder Gedanke an den Tod wird unterdrückt.

Der Klappentext, der verspricht, dass „die Hybris unserer digitalisierten Gegenwartswelt schonungslos und packend entblößt“ wird, ist zwar ein bisschen großspurig. Reichlich Lesestoff für den Liegestuhl bietet der Roman aber in jedem Fall. WOLFGANG STIELER

Jens Lubbadeh: „Unsterblich“, Heyne Verlag, 448 Seiten, 14,99 Euro (E-Book 11,99 Euro)

Meteorologie

Stürmische Zeiten

Abenteuerliche Ballonexperimente, waghalsige Pioniere: Ihren Anfang nahm die Meteorologie als turbulente Citizen Science. Gesegnet mit viel Zeit, genügend Geld und getrieben von immenser Neugier machten sich Englands Adlige und das gehobene Bürgertum daran, das Wetter zu verstehen. Peter Moore erzählt in seinem Buch von den entscheidenden Jahren im 19. Jahrhundert. In wunderbaren Porträts beschreibt er die maßgeblichen Persönlichkeiten dieser Ära, von Francis Beaufort über Erasmus Darwin bis hin zu Robert FitzRoy. Die Forscher trieb nicht nur die britische Liebe zum Wetter, sondern auch die Sorge um Englands Seefahrer. Schließlich konnte Leben retten, wer Stürme und andere gefährliche Wetterphänomene vorherzusagen vermochte. Viele der Protagonisten kannten sich persönlich und waren Teil eines Kreises, der auch über die Meteorologie hinaus Wissenschaftsgeschichte schrieb: Erasmus Darwin war der Großvater von Charles Darwin; FitzRoy Kapitän der „Beagle“, auf deren Expeditionen Darwin die Beweise für seine Evolutionstheorie sammelte. Moore gelingt es, ihre teils abenteuerlichen Geschichten zu einem lebendigen Bild dieses Jahrhunderts der Entdeckungen zu verweben – auch wenn er mitunter zu sehr abschweift und es weniger als 509 Seiten auch getan hätten. Robert Thielicke

Peter Moore: „Das Wetterexperiment“, 560 Seiten (inkl. Anhang), mare verlag, 26 Euro

WIRTSCHAFT

Von Nieren und Märkten

Nicht alle Märkte haben mit Waren und Geld zu tun. Alvin E. Roth, Wirtschaftsnobelpreisträger von 2012, hat Märkte untersucht, die passende Partner zusammenbringen sollen, zum Beispiel Kinder und Kindergartenplätze oder Jura-Absolventen und Referendariate. An diesen Beispielen erklärt Roth, welche Formen von „Marktversagen“ es geben kann, und wie sie sich mit oft kleinen Eingriffen vermeiden lassen. Denn, so sein Credo: Märkte sind mitnichten ein freies Spiel der Kräfte, sondern wollen sorgfältig gestaltet sein. Dabei hat er reichlich Erfahrung: Mitte der 2000er-Jahre wirkte er etwa dabei mit, einen „Nieren-Ringtausch“ zu organisieren. Das damalige Problem: Viele Nierenkranke hatten zwar Angehörige, die bereit waren, eine Niere für sie zu spenden, aber oft passten deren Organe biologisch nicht zu den Empfängern. Aber womöglich zu anderen Patienten, die wiederum spendebereite Angehörige mit passenden Organen hatten. Doch wie sollten sie zueinanderfinden? Roth schildert spannend, wie er mit seinen Kollegen eine Art Tauschbörse ersann, die Ringtausche mit bis zu 16 Transplantationen hervorbrachte. G. HONSEL

Alvin E. Roth: „Wer kriegt was und warum? Bildung, Jobs und Partnerwahl: Wie Märkte funktionieren“, Siedler Verlag, 304 Seiten, 24,99 Euro (E-Book: 19,99 Euro)