Neuer Stamm von Ureinwohnern
Weniger als Krankheit, sondern mehr als menschliche Besonderheit versteht Steve Silberman Autismus.
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Wer sich in die historischen Abgründe von Therapien für sogenannte Geisteskranke begibt, den überkommt schnell das Schaudern: Mitte des vorigen Jahrhunderts nutzen kalifornische Verhaltenstherapeuten noch Elektroschocks oder Schläge, um Kinder angeblich erfolgreich von der Geißel des Autismus zu befreien. Genau da setzt Steve Silberman in seinem US-Bestseller „Geniale Störung“ an. Denn der Wissenschaftsjournalist begreift diese Konstitution im besten Fall nicht als Krankheit. Stattdessen macht sich der Autor den Standpunkt jener Community zu eigen, die sich in den vergangenen rund 30 Jahren in Übersee etabliert hat: Da wird Autismus längst als ein „ganz eigenes Sein“ begriffen und als „vollkommen andere Lebensart oder Identität“ gefeiert.
Doch bis zu der Erkenntnis war es ein beschwerlicher Weg. Der Entwicklung seit der Entdeckung des Autismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts spürt Silberman in allen Facetten nach. Detailliert und anschaulich porträtiert er Persönlichkeiten wie den Wiener Arzt Hans Asperger, den Vater des nach ihm benannten Syndroms. Dabei wird zugleich deutlich, wie verhängnisvoll es für die Sicht der Amerikaner auf den Autismus war, dass Aspergers Ergebnisse in den USA lange nicht rezipiert wurden. Denn der Österreicher bescheinigte seinen Patienten zwar mangelnde Empathie, Unfähigkeit zu Freundschaften, Störungen bei Blickkontakt oder Sprachgebrauch. Auf der anderen Seite attestierte er ihnen jedoch oft hohe Intelligenz, Spezialinteressen oder ein erstaunliches Wissen.
In den Staaten waren stattdessen Leo Kanners Ansichten vorherrschend. Der US-Spezialist für Autismus schrieb das Phänomen auf eine kindliche Störung fest und gab die Schuld obendrein den sogenannten „Kühlschrank-Müttern“. Aspergers Erkenntnisse fanden in den USA erst zu Beginn der 80er-Jahre Aufmerksamkeit – sicherlich zum Wohle einiger Computernerds und technik-affiner Tüftler. Außerdem kristallisierte sich heraus, dass Gendefekte zu den Hauptursachen zählen.
„Was immer Autismus ist“, schreibt Silberman, „er ist kein singuläres Produkt der modernen Zivilisation, sondern ein eigenartiges Erbe aus ferner Vergangenheit“. Erst mit der Zeit outeten sich immer mehr Erwachsene, denen die Diagnose zuvor verweigert worden war. Sie kämen sich vor wie die Mitglieder eines „verlorenen Stammes“, zitiert Silberman etwa die Australierin Donna Williams. Bei all seiner Faszination für autistische Persönlichkeiten kommt in dem Band allerdings etwas zu kurz, dass sich viele Autisten nie zu hochintelligenten Nerds entwickeln werden. Sie werden nie sprechen lernen, studieren oder Computer programmieren, sie können nicht allein leben und vielleicht nur mit Mühe kleinste alltägliche Verrichtungen bewältigen. INGE WÜNNENBERG