MIT Technology Review 1/2017
S. 88
Meinung
Bücher

Neuer Stamm von Ureinwohnern

Weniger als Krankheit, sondern mehr als menschliche Besonderheit versteht Steve Silberman Autismus.

Steve Silberman: Geniale Störung. DuMont Buchverlag, 608 Seiten, 28 Euro (E-Book 21,99 Euro)

Wer sich in die historischen Abgründe von Therapien für sogenannte Geisteskranke begibt, den überkommt schnell das Schaudern: Mitte des vorigen Jahrhunderts nutzen kalifornische Verhaltenstherapeuten noch Elektroschocks oder Schläge, um Kinder angeblich erfolgreich von der Geißel des Autismus zu befreien. Genau da setzt Steve Silberman in seinem US-Bestseller „Geniale Störung“ an. Denn der Wissenschaftsjournalist begreift diese Konstitution im besten Fall nicht als Krankheit. Stattdessen macht sich der Autor den Standpunkt jener Community zu eigen, die sich in den vergangenen rund 30 Jahren in Übersee etabliert hat: Da wird Autismus längst als ein „ganz eigenes Sein“ begriffen und als „vollkommen andere Lebensart oder Identität“ gefeiert.

Doch bis zu der Erkenntnis war es ein beschwerlicher Weg. Der Entwicklung seit der Entdeckung des Autismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts spürt Silberman in allen Facetten nach. Detailliert und anschaulich porträtiert er Persönlichkeiten wie den Wiener Arzt Hans Asperger, den Vater des nach ihm benannten Syndroms. Dabei wird zugleich deutlich, wie verhängnisvoll es für die Sicht der Amerikaner auf den Autismus war, dass Aspergers Ergebnisse in den USA lange nicht rezipiert wurden. Denn der Österreicher bescheinigte seinen Patienten zwar mangelnde Empathie, Unfähigkeit zu Freundschaften, Störungen bei Blickkontakt oder Sprachgebrauch. Auf der anderen Seite attestierte er ihnen jedoch oft hohe Intelligenz, Spezialinteressen oder ein erstaunliches Wissen.

In den Staaten waren stattdessen Leo Kanners Ansichten vorherrschend. Der US-Spezialist für Autismus schrieb das Phänomen auf eine kindliche Störung fest und gab die Schuld obendrein den sogenannten „Kühlschrank-Müttern“. Aspergers Erkenntnisse fanden in den USA erst zu Beginn der 80er-Jahre Aufmerksamkeit – sicherlich zum Wohle einiger Computernerds und technik-affiner Tüftler. Außerdem kristallisierte sich heraus, dass Gendefekte zu den Hauptursachen zählen.

„Was immer Autismus ist“, schreibt Silberman, „er ist kein singuläres Produkt der modernen Zivilisation, sondern ein eigenartiges Erbe aus ferner Vergangenheit“. Erst mit der Zeit outeten sich immer mehr Erwachsene, denen die Diagnose zuvor verweigert worden war. Sie kämen sich vor wie die Mitglieder eines „verlorenen Stammes“, zitiert Silberman etwa die Australierin Donna Williams. Bei all seiner Faszination für autistische Persönlichkeiten kommt in dem Band allerdings etwas zu kurz, dass sich viele Autisten nie zu hochintelligenten Nerds entwickeln werden. Sie werden nie sprechen lernen, studieren oder Computer programmieren, sie können nicht allein leben und vielleicht nur mit Mühe kleinste alltägliche Verrichtungen bewältigen. INGE WÜNNENBERG

HISTORIE

In den Fängendes Antisemitismus

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hat es gedauert, bis man sich in Österreich der historischen Aufarbeitung von Austrofaschismus und Nationalsozialismus stellte. Und abgeschlossen ist dieser Prozess noch lange nicht. Wie stark der Antisemitismus etwa in den 20er-Jahren das politische wie gesellschaftliche Klima in Wien bestimmte, zeigt der Wissenschaftsjournalist Klaus Taschwer in seinem Buch „Der Fall Paul Kammerer“. An der Biografie des Wiener Biologen, der damals mit seiner Forschung über die Vererbung erworbener Eigenschaften international bekannt wurde, offenbaren sich die Intrigen antijüdisch gesinnter Wissenschaftskollegen. Kammerer erschoss sich 1926, als er in einem Artikel in der renommierten Zeitschrift „Nature“ beschuldigt wurde, seine Geburtshelferkröten manipuliert und seine Ergebnisse gefälscht zu haben. Zugleich aber beteuerte er seine Unschuld. Was wirklich geschehen ist, kann Taschwer auch 90 Jahre später nicht aufklären. Immerhin liefert der Autor viele Indizien für einen ordentlichen Komplott, sodass sich das historisch äußerst informative Buch liest wie ein Krimi. INGE WÜNNENBERG

Klaus Taschwer: „Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit“. Hanser Verlag, 352 Seiten, 24 Euro (E-Book 17,99 Euro)

MATERIALien

Hart wie Schokolade

Was haben Beton, Glas, Graphit, Papier, Porzellan, Stahl und Schokolade gemeinsam? Zu all diesen vermeintlich unspektakulären Alltagsmaterialien lassen sich spannende Geschichten erzählen. Der Londoner Materialwissenschaftler Mark Miodownik beschreibt nicht nur, wie welcher Stoff unsere Zivilisation beeinflusst hat. Er taucht bei Bedarf auch tief in die Molekularstruktur ein, um etwa zu erklären, warum genau Schokolade so unwiderstehlich in unserem Mund zerschmilzt, oder was Porzellan seinen Schimmer verleiht. GREGOR HONSEL

Mark Miodownik: „Wunderstoffe. Zehn Materialien, die unsere Zivilisation ausmachen“. DVA, 304 Seiten, 19,99 Euro (E-Book: 15,99 Euro)

FORSCHUNG

Junger Wilder mit Hirn

Vielleicht ist Dong-Seon Chang kein Gerhard Roth aus der Riege der etablierten Autoren über Hirnforschung, aber das muss er auch gar nicht. Wenn es um die Erklärung der komplexen Prozesse im Gehirn geht, findet der 36-jährige Neurowissenschaftler Chang seinen eigenen Stil – und der ist vorrangig locker und fundiert zugleich. Gespickt mit Fragen zu Bildern, Anekdoten aus der eigenen Studienzeit und durch kurzes Anreißen zahlreicher Studien erklärt er Schritt für Schritt, wie das Gehirn lernt und somit die eigene Wahrnehmung das Einordnen Anderer beeinflusst und auch, wie es mit einer virtuellen Umgebung zurechtkommt. Dabei profitiert der Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik sicherlich von seinen Erfahrungen auf der Bühne. Als Science Slammer weiß er um den Wert der Verknüpfung von Unterhaltung und wissenschaftlichem Input. Ein Platz in der Reihe der „jungen Wilden“ der Hirnforschung ist ihm mit diesem Rüstzeug allemal sicher. JENNIFER LEPIES

Dong-Seon Chang: „Mein Hirn hat seinen eigenen Kopf“. Rowohlt Polaris, 256 Seiten, 14,99 Euro (E-Book 12,99 Euro)