MIT Technology Review 1/2017
S. 50
Horizonte
Klimawandel

Zeitmaschine fürs Klima

Wie könnte die Welt von morgen aussehen? Forscher testen, wie die globale Erwärmung das Leben auf der Erde verändern wird.

Tief und düster hängen die Wolken über dem norwegischen Raunefjord. Zwei junge Wissenschaftler beladen den Aluminiumkahn „Wassermann“ mit Plastikbehältern, Netzen, Seilen, Wasserschöpfern und einer Probensonde. Sie können sich das Gähnen nicht verkneifen. Die Nacht war kurz. Bis in die frühen Morgenstunden haben sie gemeinsam mit ihren Kollegen Wasserproben analysiert. Denn irgendetwas stimmt nicht. Eines der wichtigsten Experimente in der neun Grad kalten Nordsee verläuft völlig anders als erwartet. Die Algenzusammensetzung in zahlreichen Wasserproben hat sich schlagartig verändert. Haben die Forscher einen Fehler gemacht? Droht der Versuch, in den so viel Zeit investiert wurde, zu scheitern? Um das herauszufinden, müssen sie möglichst rasch zusätzliche Proben entnehmen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Kurz nach acht legen sie mit ihrem Motorboot ab. Keine zehn Minuten dauert die Fahrt zur Versuchsfläche. Hinter einer Insel öffnet sich der Blick auf acht eigenartige Geräte. Sie sehen aus, als würden kleine Gartenpavillons auf den Wellen schaukeln. Knapp drei Meter hoch und zwei Meter breit ragen sie aus dem Wasser. Unter einer mit dünnen Stacheln bewehrten Folienhaube – die Seevögel fernhalten soll – hängt jeweils ein riesiger geschlossener Plastiksack an einem Metallring zwischen sechs orangefarbenen Kunststoffsäulen. Etwa 20 Meter reicht er in die Tiefe und ist mit alten Eisenbahnrädern auf dem etwa 50 Meter tiefen Meeresboden verankert. Rund 55000 Liter Salzwasser, mitsamt allen enthaltenen Organismen, wurden darin eingefangen und anschließend fest verschlossen. Sie sollen den Forschern verraten, was mit den Meeren passiert, wenn die Konzentration an Kohlendioxid in der Atmosphäre weiter steigt.

In riesigen Becken im Stechlinsee können Forscher untersuchen, wie sich das Klima der Zukunft auf Wasserorganismen auswirkt. Foto: Martin Oczipka/ IGB/ HTW Dresden

„Mesokosmen“ nennen die Wissenschaftler ihre überdimensionalen Reagenzgefäße. Darin können sie mithilfe einer vielstrahligen Apparatur, der sogenannten Spinne, erhöhte Mengen Kohlendioxid ins Wasser einbringen und so einen Zustand simulieren, wie Klimamodelle ihn für die nächsten Jahrzehnte prognostizieren. Ein Team des Geomar Helmholtz-Zentrums aus Kiel hatte die Versuchsanlage im Frühjahr 2015 in der Nordsee bei Bergen für ein 50-tägiges Experiment installiert. 35 Tonnen Geräte und Material – Boote, Tauchausrüstung, Schutzanzüge, Experimentierstationen und eine Laborausstattung für 36 Mitarbeiter – mussten sie per Schiff in die norwegische Forschungsstation Espeland bringen. Davor schaukelten die Mesokosmen bereits in der Nord- und Ostsee sowie im Mittelmeer. Zurzeit schwimmen sie in tropischen Gefilden vor der Küste Perus.