MIT Technology Review 10/2017
S. 96
Fundamente
Jubiläum

Als man noch alles wissen konnte

Vor 500 Jahren erstellte der Universal-gelehrte Aventinus die erste gedruckte Enzyklopädie.

Dass Johann Georg Turmair einmal zum Wegbereiter der klassischen Philologie werden sollte, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Sein Vater betrieb eine Weinwirtschaft im bayerischen Abensberg zwischen Ingolstadt und Regensburg. Der bescheidene Wohlstand reichte, um dem Sohn eine anspruchsvolle Schuldbildung zukommen zu lassen. Im nahe gelegenen Karmelitenkloster rüsteten die Padres den wissbegierigen Knaben mit derart exzellenten Lateinkenntnissen aus, dass er schon in jungen Jahren die bedeutendsten Universitäten im damaligen Europa besuchen konnte: Ingolstadt, Wien, Krakau und Paris. Den Namen seiner Heimatstadt latinisierte er in humanistischer Manier und nannte sich fortan Aventinus.

Johannes Aventinus (1477–1534) in einem Kupferstich von Hans Lautensack. Foto: Wikipedia

Dem Hof war die ungewöhnliche Karriere des Wirtssohns nicht verborgen geblieben. Herzog Wilhelm IV. nahm den Magister 1508 in seine Dienste. Fast ein Jahrzehnt war er Erzieher des Prinzen Ernst und seines jüngeren Bruders Ludwig. Für das Studium der Herzogsöhne schrieb Aventinus 1517 eine lateinische Grammatik. Sie wurde nicht nur zum am weitesten verbreiteten Latein-Lehrbuch in Deutschland. Kleriker und Bürger nutzten die 241-Seiten-Schrift auch als Nachschlagewerk und Lesebuch. Denn vom Renaissance-Ideal des Universalgelehrten getrieben, wollte Aventinus den gesamten Wissensstand seiner Epoche zusammentragen. Dies gab er als Anhang seiner Grammatik bei.

Zwar existierten bereits ähnliche Nachschlagewerke, etwa das hochmittelalterliche „Speculum maius“, das 480 Bücher und rund drei Millionen Wörter umfasst. Doch erst seit dem 15. Jahrhundert entwickelte sich die eigenständige Gattung „Enzyklopädie“. Das Werk von Aventinus ist die erste gedruckte selbstständige Abhandlung, die den Titel Enzyklopädie trägt. Sie sollte, so der bayerische Volkskundler und Autor Eberhard Dünninger, „nicht weniger widerspiegeln als den Gang der ganzen Weltgeschichte vom Anfang der Schöpfung und vom Beginn der Menschheit an“.

Diesen Anspruch manifestiert Aventinus in einem Titel, der neun Zeilen umfasst: „Encyclopedia orbisque doctrinarum, hoc est omnium artium, scientiarum, ipsius philosophiae index ac divisio“. Auf Deutsch: „Enzyklopädie und Kreis der Lehren, das ist aller Künste, Wissenschaften, der Philosophie nebst Verzeichnis und Gliederung“.

Auf dem Deckblatt verspricht Aventinus, das „gesamte gegenwärtige Wissen“ in Kurzform zu präsentieren – und ruft die Leser auf, dieses Wissen „wie ein Herold in die Welt hinauszutragen“. Es wurde auf besondere Weise präsentiert: In Stichworten beschreibt Aventinus etwa die Philosophen und ihre Lehren – von Sokrates über Pythagoras bis hin zu Aristoteles.

Dabei führte Aventinus eine neue, kritische Art der Quellenbetrachtung ein. Sie fühlte sich nicht mehr den Vorlagen verhaftet, sondern suchte weitere Quellen für historische Ereignisse und analysierte deren Ursache und Wirkung. Damit wurde er zum Wegbereiter der Philologie, also der Wissenschaft der Sprache und Texte.

Nach seiner Grammatik erstellte Aventinus eine der ersten bayerischen Geschichtschroniken und zudem die erste Karte von Bayern. Dabei stellte er zeitlebens die höchsten Ansprüche an seine Werke – und an sich selbst. Sein Leitspruch, den er in alle seine Bücher stempelte, lautete: „Strebe nach Vollkommenheit und halte dich von allen Vergnügungen fern“.

Der Erfolg gab ihm recht. Schon zu Lebzeiten wurden vier Auflagen seiner Grammatik gedruckt. Als er am 9. Januar 1534 im Alter von 56 Jahren an einer Lungenentzündung starb, hatte er für lange Zeit die Maßstäbe gesetzt. Es erschienen zwar weitere Enzyklopädien, die einen ähnlich allumfassenden Anspruch erhoben wie Aventinus – ihn aber nicht erfüllen konnten. Erst im 18. Jahrhundert legte Johann Heinrich Zedler ein vergleichbares Konvolut vor: ein „Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste“. JOSEPH SCHEPPACH