MIT Technology Review 10/2017
S. 88
Meinung
Bücher

Bomben im Code

Algorithmen sind zu Waffen geworden, die unsere Gesellschaft erschüttern. Das sollten wir dringend ändern, fordert Cathy O’Neil.

CATHY O’NEIL: ANGRIFF DER ALGORITHMEN Carl Hanser Verlag, 352 Seiten, 24 Euro (E-Book 17,99 Euro)

Von Algorithmen hängt es ab, ob man einen Kredit für sein Haus erhält, wie viel man für die Krankenversicherung bezahlt, ob man den gewünschten Job bekommt und welche Nachrichten man morgens bei Facebook sieht. Die Mathematikerin Cathy O’Neil erklärt, wie diese Algorithmen zwar theoretisch objektive Entscheidungen treffen, in der Praxis aber oft nur mächtigen Interessen folgen.

Cathy O’Neil weiß, wovon sie spricht. Sie hat in Harvard promoviert, zunächst als Dozentin, dann als Hedgefonds-Managerin gearbeitet und während der sich entwickelnden Finanzkrise das Risiko von Kreditausfällen analysiert – was allerdings niemanden in der Branche interessiert hat. „Mathematik wurde benutzt, um Leute zu beeindrucken und zu verdummen, und nicht, um Zusammenhänge zu verstehen und zu erklären“, schreibt O’Neil. Sie stieg aus, engagierte sich in der globalisierungs-kritischen Bewegung und begann zu beschreiben, was schiefläuft.

Mit „Angriff der Algorithmen“ liegt nun die deutsche Übersetzung ihres Buches vor, das im Herbst 2016 auf Englisch erschien – unter dem eigentlich viel besseren Titel „Weapons of Math Destruction“ in Anlehnung an die „Weapons of Mass Destruction“.

Obwohl „Angriff der Algorithmen“ nun wirklich nicht das kritische erste Buch über die Macht der Algorithmen ist, kann man es rundheraus empfehlen. Denn O’Neil besitzt die seltene Gabe, Mathematik zu erklären, ohne Mathematik zu benutzen. Vielmehr beschreibt sie anhand zahlreicher Beispiele, wie diese Welt funktioniert.

Es sind Beispiele wie das der Lehrerin Sarah Wysocki, die Opfer des Impact-Beurteilungssystems wurde. Die Software urteilt aufgrund von Schülerdaten am Ende jedes Schuljahrs, wie gut die Lehrkräfte die Schüler unterrichten. Wysocki, die von Kollegen und Eltern für eine gute Pädagogin gehalten wurde, war sich sicher, damit keine Probleme zu haben – bis sie ihre Kündigung erhielt. Ihr Impact-Score war angeblich zu gering. Denn was die Software nicht berücksichtigt hatte: Weil alle Lehrer daran interessiert waren, dass ihre Schüler gut abschneiden, halfen sie offensichtlich immer wieder nach. Wysocki hatte das nicht getan, und so waren ihre Schüler nach einem Jahr plötzlich scheinbar schlechter geworden.

„Weder Daten noch Computer – und erst recht nicht die Mathematik – werden jemals wieder aus unserem Leben verschwinden“, fasst O'Neil zusammen. „Wenn wir vor ihnen zurückweichen und mathematische Modelle als neutrale oder unvermeidliche Macht behandeln, gleichsam wie das Wetter oder die Gezeiten, entziehen wir uns unserer Verantwortung“. Es müsse unbedingt gelingen, die Algorithmen „zu überwachen, zu bändigen und zu entschärfen“, schreibt sie. Bleibt nur zu hoffen, dass es dafür noch nicht zu spät ist. WOLFGANG STIELER

BIOLOGIE

Neuer Mystizismus?

Die einen glauben, dank medizinischer Fortschritte nie sterben zu müssen, die anderen wollen ihren Geist gleich auf einen Rechner hochladen. Die sogenannten Transhumanisten sind ein buntes Volk, vereint im Glauben, der Tod sei ein reparabler Designfehler der Natur.

Der irische Journalist Mark O’Connell hat neugierig, aber skeptisch viele Vertreter der Bewegung porträtiert. Dabei macht er immer wieder Parallelen zwischen Transhumanismus und Religion aus: Beide würden gespeist von der Ohnmacht gegenüber Tod und Verfall.

Das verstellt ihm leider den Blick auf die gravierenden Unterschiede: Transhumanisten glauben nicht an ein Leben nach dem Tod, sondern an ein Leben ohne Tod. Und ihre Überzeugung, dass Bewusstsein und Materie trennbar sind, hat nichts mit einer „neuen Form des Dualismus“ zwischen Leib und Seele oder gar mit „einer Art Mystizismus“ zu tun, wie O’Connell meint. Transhumanisten würden die Idee, dass Geist unabhängig von einem Körper existieren kann, weit von sich weisen. Sie sind lediglich überzeugt, dass er nicht auf eine einzige Art von Körper begrenzt ist. Weniger persönliche Betroffenheit und mehr analytische Trennschärfe hätten dem Buch gutgetan. GREGOR HONSEL

Mark O’Connell: „Unsterblich sein“. Hanser, 304 Seiten, 24 Euro (E-Book 17,99 Euro)

UMWELT

Mit Infografik ins Bewusstsein

„Das Ozeanbuch. Über die Bedrohung der Meere“ ist ein spannendes Werk, das weniger zum klassischen Lesen einlädt, dafür aber umso mehr zum genauen Betrachten seiner klar gegliederten Infografiken. Mit ihren ästhetischen und nicht überladenen Grafiken schafft es Autorin Esther Gonstalla sowohl sehr junge als auch ältere Leser für das Thema zu begeistern und mit nur wenig Text eine Fülle von Informationen zu vermitteln. Schon ihr erstes Infografik-Buch „Das Atombuch. Radioaktive Abfälle und verlorene Atombomben“, das 2009 erschien, wurde mehrfach ausgezeichnet. 2012 folgte „Das Klimabuch“.

Das Ozeanbuch ist in die fünf Hauptkapitel Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt, Überfischung, Industriegebiet Ozean und Verschmutzung gegliedert. Dabei werden für jedes Themengebiet die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Meere und ihre Flora und Fauna sehr detailliert dargestellt.

Das Buch ist ein eindringlicher Appell an jeden Leser, sein persönliches Verhalten zum Schutz der Meere zu verändern. Denn obwohl der Zustand der Meere schon sehr besorgniserregend ist, zeigt Gonstalla auch etliche positive Entwicklungen und Möglichkeiten zur Rettung unserer Ozeane auf. KARSTEN SCHÄFER

Esther Gonstalla: „Das Ozeanbuch. Über die Bedrohung der Meere“. Oekom Verlag, 128 Seiten, 24 Euro

WISSENSCHAFT

Studium generale

Synthetische Bakterien, KI mit Gefühlserkennung oder die Ausrottung von missliebigen Tierarten durch Gentechnik: Lars Jaeger legt mit seinem Kompendium „Supermacht Wissenschaft“ einen Rundumschlag von Technik bis Life Sciences vor. Dafür trägt der gelernte Physiker jeweils das neueste Wissen zusammen. Das Buch gliedert sich in unzählige Kapitelchen, die den Leser kurzweilig und verständlich auf den aktuellen Stand bringen – seien es nun Quantencomputer, Nanoroboter oder Krebstherapien.

Ohnehin scheint es Jaegers Anliegen zu sein, das naturwissenschaftliche und technische Know-how aus der Expertenecke zu holen und es zurück in die Gesellschaft zu tragen. Etwas betulich wirkt allerdings die lehrbuchhafte Aufmachung mit kleinen Kästen, die jeweils den Stoff zusammenfassen. Andererseits regt dies dazu an, das Gelesene noch einmal Revue passieren zu lassen. Am Ende appelliert Jaeger in einem Manifest an seine Zeitgenossen, sich hinsichtlich der neuen Technologien auf den aktuellen Stand zu bringen und zudem verantwortungsvoll mit den technischen Möglichkeiten umzugehen. INGE WÜNNENBERG

Lars Jaeger: „Supermacht Wissenschaft. Unsere Zukunft zwischen Himmel und Hölle“. Gütersloher Verlagshaus, 416 Seiten, 22,99 Euro (E-Book 18,99 Euro)