MIT Technology Review 10/2017
S. 3
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Was früher Schicksal war, ist heute eine Entscheidung. Auf diesen einfachen Nenner lässt sich ein bedeutender Teil des Fortschritts bringen, von der Erfindung des Speers über die Gentherapie bis zur künstlichen Intelligenz. Früher aßen die Menschen Tiere, die schon gestorben waren, über ihren Tod entschied die Natur. Mit dem Speer fällt diese Entscheidung der Mensch. Bald schon werden Mediziner Eizellen oder Spermien reparieren und Erbkrankheiten heilen – und zwar nicht nur jene der Nachkommen, sondern die Leiden aller künftigen Generationen gleich mit. Wir könnten Erbkrankheiten ausmerzen wie die Pocken. Sollen wir den Lauf unserer eigenen Evolution verändern? Und wenn ja, wie schwer muss ein Leiden sein, um diesen Schritt zu rechtfertigen?

Wir erschaffen Computerprogramme, die uns einen völlig neuen Blick auf die Welt ermöglichen, die Zusammenhänge entdecken, die Menschen alleine nie zugänglich wären. Nun müssen wir entscheiden, wie sie am besten zu nutzen sind. Wir müssen beispielsweise überlegen, wie mit Algorithmen umzugehen ist, die das Rückfallrisiko von Straftätern beurteilen.

Je weiter wir zu den Grundlagen des Lebens vorstoßen, je stärker wir den Lauf der Dinge kontrollieren, umso weiter drängen wir das schicksalhafte Moment zurück. Darum geht es dem Menschen seit jeher, und seit jeher stellt sich die Frage: Wie werden wir der damit einhergehenden Verantwortung gerecht?

Mit den nun verfügbaren Technologien gewinnt diese Frage jedoch eine neue Dimension: Weil sie immer näher an den Menschen heranrücken, weil sie die Möglichkeiten jedes Einzelnen wachsen lassen, wird auch die Frage, wie sie am besten zu nutzen sind, immer persönlicher. Früher brauchte man für die Entschlüsselung des Erbguts sündteure Maschinen, der Staat oder die Krankenkassen konnten den Zugang regulieren. Heute kann die Analyse jeder im Internet bestellen.

Was also sollen wir tun? Ab Seite 28 geben wir ein paar Entscheidungshilfen. Welchen Weg auch immer wir wählen, unser Entschluss wird den Lauf der Zukunft beeinflussen.

Ich begrüße Sie in unserer Oktober-Ausgabe.

Ihr

Robert Thielicke

Unterschrift