MIT Technology Review 12/2018
S. 104
Meinung
Bücher

Realität statt Science-Fiction

In seinem Roman „Troll“ erzählt Michal Hvorecky von der diktatorischen Macht von Hass und Hetze im Netz.

MICHAEL HVORECKY: "TROLL", Tropen, 216 Seiten, 18 Euro (E-Book 13,99 Euro)

Osteuropa in naher Zukunft: Die EU existiert nicht mehr. Stattdessen hat sich aus mehreren Staaten ein autoritäres Reich formiert. Oppositionelle, Künstler, Flüchtlinge und andere Randgruppen werden systematisch diskreditiert und schikaniert. Im Auftrag der Regierung überfluten Tausende von Trollen Chatforen und soziale Netzwerke. Diese politisch motivierte Internetarmee verbreitet Hass, Vorurteile und Fake-News. Täglich gibt es neue Vorgaben, gegen welche angeblichen Feinde des Reichs gehetzt werden soll und welche Unwahrheiten gezielt gestreut werden sollen. Mit fatalen Folgen: „Die Trolle sorgten dafür, dass das Netz immer mehr den Sumpf der zornigen Seelen im fünften Kreis der Hölle ähnelte. Aus Angst, aus Gehässigkeit, aus Rachedurst, aus Hass gegen alle anderen und gegen sich selbst.“ Ein gefährlicher Kreislauf entsteht, in dem ahnungslose User die Parolen der Trolle aufnehmen und weiterverbreiten.

Mittendrin in einem der riesigen Trolling-Säle versucht der namenlose Held dieser Dystopie, das System von innen heraus zu überlisten. Gemeinsam mit seiner Freundin verbreitet er zunächst ebenfalls Lügen, um nicht aufzufallen. Doch insgeheim arbeiten die beiden jungen Leute daran, die Spirale der Desinformation zu stoppen. Ihr Ziel: Trolle, die Trolle entlarven und endlich wieder für Meinungsvielfalt und Aufklärung sorgen. Der riskante Plan kann die Aktivisten ins Gefängnis bringen. Doch die Computernerds haben nichts zu verlieren; am liebsten wäre ihnen, das Reich würde zusammenbrechen.

In erstaunlich hohem Tempo erzählt Michal Hvorecky diese brisante Geschichte. Der 41-jährige Slowake weiß genau, wovon er schreibt: Da er sich in seiner Heimat seit Jahren für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen engagiert, wird er regelmäßig von Trollen angegriffen. Mit seinem Roman zeigt Hvorecky souverän und schockierend, wie stark der Einfluss der Medienmanipulation in Osteuropa bereits jetzt geworden ist. Und er warnt damit vor einer zurzeit offenbar nicht zu stoppenden Entwicklung: Weltweit nutzen Regierungen, Militärs und Konzerne das Internet zur strategischen Manipulation der User. „Die Wirklichkeit hat die Science-Fiction überholt“, heißt es an einer Stelle des schmalen, schnellen Buches – und tatsächlich: Noch vor fünf Jahren wäre Hvoreckys Szenario als originelle Utopie bezeichnet worden. Nun ist sie bittere Realität. Günter Keil

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medizin

Autismus ganz anders

Kai war kein Kind wie jedes andere. Aber als klar war, dass sein Sohn Autist ist, setzte der Hirnforscher Henry Markram alles daran, Kai zu helfen. Nur wie? Lorenz Wagner vollzieht in seinem Buch einfühlsam nach, wie Markram und dessen zweite Frau tief in die Autismusforschung einstiegen. Das Ergebnis ist ein Familienporträt mit erstaunlichen Einsichten. Die Markrams widersprechen mit plausiblen Argumenten der gängigen These, Autisten fehle jegliche Empathie. Das Gegenteil sei der Fall – sie nähmen ihre Umgebung viel zu intensiv wahr und müssten sich daher abschotten. Die Forschung brachte Markram zugleich aber auch eine Selbsterkenntnis: Er ist ebenfalls ein Mensch mit autistischen Zügen und kann seinen Sohn daher besser verstehen als viele andere. inge wünnenberg

Lorenz Wagner: „Der Junge, der zu viel fühlte“, Europa Verlag, 216 Seiten, 18,90 Euro (E-Book 12,99 Euro)

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Teilchenphysik

Nestbeschmutzung

Viele Physiker glauben, dass ihre Theorien schön und elegant sein müssten. Sabine Hossenfelder – selbst Physikerin – ist jedoch davon überzeugt, dass der Glaube an mathematische Schönheit und Eleganz zum Dogma geworden ist, das in Konflikt mit wissenschaftlicher Objektivität gerät. „Sie erklären dem Stammeshäuptling nicht, dass das Zelt stinkt, wenn hinter Ihnen ein Dutzend Leute mit Speeren in der Hand stehen“, schreibt Hasselfelder. „Opportunismus mag die Überlebens-fähigkeit verbessern, aber der Wahrheitsfindung dient er selten.“ Die Kritik ist scharf, trotzdem ist das Buch unterhaltsam. Vor allem aber geht sie weit über die Physik hinaus. Die Lektüre lohnt daher auch, wenn man kein Physiker ist. WOLFGANG STIELER

Sabine Hossenfelder: „Das hässliche Universum“, S. Fischer Verlag, 368 Seiten, 22 Euro (E-Book 18,99 Euro)

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Klassiker neu gelesen

Einmal Lagerfeuer und zurück

Ob es um Fernsehen, Internet oder soziale Medien geht – früher oder später wird der Begriff vom „globalen Dorf“ fallen. Geprägt hat ihn der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits 1962 in seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“. Fünf Jahre später etablierte er ein weiteres Schlagwort, das bis heute geschmeidig in jede Mediendebatte passt: „Das Medium ist die Botschaft.“ (Dabei war im Original nicht von Message, sondern von Massage die Rede – ein Druckfehler, der McLuhan angeblich so gut gefiel, dass er ihn stehen ließ.)

Spätestens dieses Werk verschaffte McLuhan (1911–1980) einen unverwüstlichen Ruf als Visionär. Seine zentrale These lautet: Bis zur Erfindung der Schrift lebte der Mensch im akustischen Raum der Lagerfeuer-Erzählungen – „im Dunkel der Seele, in der Welt der Gefühle“. Dann kamen Alphabet und Buchdruck als serielle visuelle Medien. Sie brachten nicht nur Rationalität, sondern auch „Fragmentierung, Spezialisierung und Distanzierung“ mit sich. In der Folge entstanden „Straßen, Armeen und Verwaltungsapparate“.

Der „elektrische Schaltkreis“ drehe das Rad nun wieder zurück und lasse „die multidimensionale Raumorientierung des ,Primitiven‘ von neuem entstehen“. So „fördert er Tendenzen der Vereinigung und stärkt das Engagement“.

Klingt ja alles ganz schön schlau. Nur: Was folgt daraus? Und welche Botschaft genau hat welches Medium? Hier wird McLuhan vage. Stringente Argumente sind nicht so sein Ding. Stattdessen lässt er lieber seinen Assoziationen freien Lauf: Von der Schrift hangelt er sich zum Fließband (ist schließlich beides irgendwie seriell), von der Zentralperspektive in der Malerei kommt er zur Freiheitsstrafe (hat beides was mit Räumen zu tun). Gern macht er auch apodiktische Aussagen wie: „Die Erlebniswelt der Jugend ist mythisch und voller Tiefe.“ Erläuterungen, Belege gar? Keine.

Mag sein, dass solche Gedanken seinerzeit neu und aufregend wirkten. Doch warum ist das Buch immer noch populär? Wahrscheinlich, weil es ein Supermarkt voller überpointierter Aphorismen ist, die gut außerhalb jedes Zusammenhangs funktionieren, weil der Autor selbst es mit dem Zusammenhang nicht so genau nahm. GREGOR HONSEL

Marshall McLuhan, Quentin Fiore: „Das Medium ist die Massage“ Tropen, 160 Seiten, 12 Euro