MIT Technology Review 12/2018
S. 26
Am Markt

AUSPROBIERT

Tiefes Erlebnis

Mit aufwendiger Technik zeigt der WDR, wozu virtuelle Realität in der Lage ist.

Glückauf, der Steiger kommt – auch in den heimischen Rechner. Foto: Klaus Görgen/WDR Archiv

Ich greife mir eine flackernde Lampe und gehe in den Förderkorb. Er rattert nach unten, wie ich am Fahrtwind spüre. Am Ziel ist es heiß, riecht es nach Kohle und Rauch. Jemand ruft mir irgendwas zu. Es scheint sehr dringend zu sein. Ich brauche eine Weile, um zu begreifen: Die Decke droht einzustürzen, viele Holzstempel stehen schon ganz schief. Ich greife mir einen großen Hammer und dresche einen Stempel wieder gerade. Doch es sind zu viele, ich bin nicht schnell genug. Plötzlich kracht es, und es wird dunkel. Dann öffnet sich ein kleiner Lichtspalt, und jemand redet auf mich ein: „Bleib ruhig, wir holen dich hier raus.“

Ziemlich verschwitzt ziehe ich mir die VR-Brille vom Kopf. Mein Ausflug unter Tage war virtuell, aber der Schreck war echt. Habe ich etwas falsch gemacht?

Eine Betreuerin beruhigt mich: Die Simulation endet immer so, ich hatte keine Chance. Schließlich geht es hier nicht um ein Spiel, sondern um die Dokumentation harter und gefährlicher Arbeit. Wenn am 21. Dezember die letzte Schicht in der Zeche Prosper-Haniel endet, wird diese Arbeit hierzulande nur noch virtuell zu erleben sein. Der WDR hat dazu eine VR-Installation mit Rüttelplatte, Heizstrahler und Gebläse in einen Container gepackt. Die „4D-Experience“ ist auf Messen, in Schulen oder Museen zu erleben.

Ab und an ist die Simulation noch etwas inkonsistent. Mit den Handcontrollern kann ich zwar eine Brotdose greifen, aber nichts weiter mit ihr anfangen. Und die virtuellen Schaufeln, Spitzhacken und Hämmer durchdringen ihre Umgebung manchmal. Aber angesichts der emotionalen Wucht, die über alle Sinneskanäle auf mich einströmt, gerät dies schnell in den Hintergrund. Das geht offenbar nicht nur mir so: Bildschirme außen am Container zeigen in einer Dauerschleife Leute mit Schlips und Kragen, die Löcher in die Luft hauen, als ging es um ihr Leben.

Ruhiger geht es in einer anderen Station zu. Dort beschränkt sich die virtuelle Realität auf Bild und Ton. Sie zeigt keine Simulation, sondern ein hyperrealistisches Abbild der Zeche Prosper-Haniel kurz vor ihrer Stilllegung. 15 Tage lang hat ein Kamerateam dort gedreht. Dabei sind elektronische Kameras unter Tage normalerweise verboten, weil schon ein Funke beim Akkuwechsel eine Explosion auslösen könnte. Für den Dreh gab es eine Ausnahmegenehmigung und eine erhöhte Frischluftzufuhr.

Mein Rundgang beginnt in der Kohlensortierhalle. Schon wegen ihrer schieren Größe fühle ich mich wie in einer Kathedrale. Diesen Eindruck kann kein normales Foto vermitteln. Wenn ich mich umschaue, kann ich jeden Rostfleck an den Maschinen erkennen. Eine Stimme erzählt mir in sattem Ruhrpottslang, was es gerade zu sehen gibt. Weitere Stationen sind unter anderem die Halde, die Waschkaue und eine Fahrt mit einer Hängebahn in 1000 Metern Tiefe. Wer eine VR-Brille von Oculus oder Vive hat, kann auch von zu Hause aus durch das Bergwerk stromern. Unter glueckauf.wdr.de geht das auch im Browser – allerdings nur in 2D. Doch selbst das ist beeindruckend genug.