MIT Technology Review 5/2018
S. 116
Fundamente
Jubiläum

Zug um Zug zur Zeitzone

Bis ins 19. Jahrhundert hatte jeder Ort seine eigene Zeit, Deutschland war in unzählige Zeitzonen geteilt – bis vor 125 Jahren die mitteleuropäische Zeit in Kraft trat.

Ungeduldig stand Sandford Fleming am Bahnsteig im irischen Bundoran. Erst allmählich dämmerte es ihm, dass er vergebens auf den Zug wartete. Eigentlich hätte er um 17.35 Uhr abfahren sollen. Tatsächlich aber war er schon um 5.35 Uhr losgerollt – der Fahrplan hatte fünf Uhr morgens und fünf Uhr abends verwechselt.

Vor Einführung der mitteleuropäischen Zeit gab es fünf Zeitzonen für den Eisenbahnverkehr. Quelle: DB Museum, Eisenbahn-Kursbuch

Dieses Erlebnis im Juni 1876 brachte den Eisenbahn-Ingenieur zur Erkenntnis, dass mit der weltweiten Zeiteinteilung etwas Grundlegendes nicht stimmte: Jeder Ort hatte seine eigene Zeit. Wenn die Sonne am höchsten stand, war es per Definition zwölf Uhr mittags. Dadurch war zum Beispiel Stuttgart dem 70 Kilometer entfernten Karlsruhe um drei Minuten voraus.

Solange man zu Fuß oder per Postkutsche reiste, kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht an. Die ersten Fernzüge brauchten aber genaue Fahrpläne. Doch an welcher Ortszeit sollten sie sich orientieren?

Zunächst legten deutsche Eisenbahngesellschaften die lokale Zeit des Startbahnhofs als Standardzeit für die ganze Linie fest. Fahrgäste mussten also wissen, woher der Zug kam, um die Uhr danach zu stellen. Als die Privatbahnen 1871 verstaatlicht wurden, wurde es nur wenig besser: Immer noch gab es fünf Eisenbahn-Zeitzonen. Politische Querelen verhinderten eine Einigung. „In der Nordhälfte Deutschlands, die fast nur aus Preußen bestand, richteten sich alle Eisenbahngesellschaften nach der Berliner Zeit“, erklärt Rainer Mertens, stellvertretender Leiter des DB Museums in Nürnberg. „Die Staatsbahnen in Bayern, Württemberg und Baden weigerten sich jedoch, Preußen zu folgen.“ So gingen die Uhren in Bayern gleich doppelt anders: Da das Königreich aus zwei getrennten Landesteilen bestand, galt im einen Teil die Münchener, im anderen die Ludwigshafener Zeit.

Deutschland war mit diesem Problem nicht allein. In Nordamerika operierten die mehr als 400 Bahngesellschaften zeitweise gar mit 75 verschiedenen Ortszeiten. Wie man das Tohuwabohu beenden könnte, hatte Fleming nach seinem verpassten Zug in dem Aufsatz „Terrestrial Time“ beschrieben. Er empfahl zweierlei: Erstens einen Tag in 24 statt in zweimal zwölf Stunden aufzuteilen. Zweitens die Welt in 24 feste Zeitzonen von je 15 Längengraden mit jeweils einer vollen Stunde Differenz einzuteilen.

Den Ausgangspunkt („Nullmeridian“) bestimmten Delegierte der International Prime Meridian Conference am 13. Oktober 1884 in Washington. Sie einigten sich auf den Längengrad der Sternwarte von Greenwich, der bereits in der Seefahrt als zentraler Bezugspunkt diente.

Die Zeitreform brauchte allerdings viel Zeit. Erst am 1. Juni 1891 einigten sich die deutschen Bahngesellschaften darauf, die Fahrpläne nach „mitteleuropäischer Zeit“ abzustimmen (Greenwich plus eine Stunde). Am 1. April 1893, vor 125 Jahren, trat schließlich ein Gesetz in Kraft, das die Uhrzeit im gesamten Reich vereinheitlichte.

An der neuen Zeitordnung wurde bald Kritik laut: Der große Unterschied zwischen Sonnenstand und offizieller Zeit an den Rändern der Zeitzone beeinträchtige die Ausnutzung des Tageslichts. Um eine Stunde mehr Tageslicht zu gewinnen, führte Deutschland im Ersten Weltkrieg die Sommerzeit ein, anschließend wieder ab, und 1980 wieder ein.

Ihr Nutzen ist bis heute umstritten: Laut Umweltbundesamt knipsen die Deutschen wegen der Zeitumstellung im Sommer tatsächlich abends seltener das Licht an – im Frühjahr und Herbst wird morgens dafür mehr geheizt. Zudem erhöht die Zeitumstellung jüngsten Studien zufolge das Herzinfarktrisiko.

Das EU-Parlament sprach sich deshalb im Februar 2018 für die Abschaffung der Sommerzeit aus. Der deutsche Bundestag lehnte kurz danach ab, dies auf europäischer Ebene zu unterstützen. Bis die Frage geklärt ist, wird wohl noch viel Zeit vergehen. JOSEPH SCHEPPACH