MIT Technology Review 8/2018
S. 88
Meinung
Bücher

Im Dienst der Menschlichkeit

Daten umweht der Hauch von Kälte und Technokratie. Der inzwischen verstorbene Hans Rosling zeigt, wie sich eine sorgfältige Analyse mit menschlicher Wärme verbinden lässt.

Als Arzt und Forscher war Hans Rosling in der halben Welt unterwegs, um etwa bei Seuchenausbrüchen zu helfen. Dabei stieß er immer wieder auf ein verstörendes Phänomen: Selbst hochgebildete Menschen unterschätzen systematisch die Fortschritte bei Armut, Gesundheit und Bildung. Auf Fragebögen zu aktuellen Impfquoten oder zum Schulbesuch von Mädchen tendieren sie regelmäßig zur pessimistischsten Antwort – und erreichen damit schlechtere Trefferquoten, als wenn sie schlicht gewürfelt hätten.

Hans Rosling mit Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling: Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist Ullstein, 400 Seiten, 24 Euro (E-Book: 22,99 Euro)

Also begann Rosling – Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institutet und Gründungsmitglied der Ärzte ohne Grenzen – eine zweite Karriere als eine Art Datenpädagoge und gründete die Gapminder-Stiftung. Sie unterstützt die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen durch gut aufbereitete Statistiken und entsprechende Software.

Dabei setzte der Schwede neue Maßstäbe bei der Datenvisualisierung. In seinem bekanntesten Vortrag stellte er mit einem animierten Blasendiagramm innerhalb von vier Minuten dar, wie sich Einkommen und Lebenserwartung in 200 Ländern in den letzten 200 Jahren verändert haben. Auf YouTube bekam er Millionen Klicks.

Seine zentralen Botschaften: Tendenziell hat sich die Lage auf breiter Front verbessert. Und es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Erster, Zweiter und Dritter Welt. Die Lebensverhältnisse hängen in erster Linie nicht von Kontinent oder Kultur ab, sondern von einem einzigen Faktor: dem Einkommen. Dieses ist oft innerhalb eines Landes ungleicher verteilt als zwischen Ländern angeblich unterschiedlicher Entwicklungsstufen. Rosling zeigt, dass uns ein genauer Blick auf die Daten vor den eigenen Vorurteilen und fehlgeleiteten Instinkten bewahren kann.

Dabei betont Rosling regelmäßig, kein naiver Optimist zu sein. „Ich fordere Sie nicht dazu auf, sich keine Sorgen zu machen. Aber ich fordere Sie auf, sich über die richtigen Dinge Sorgen zu machen.“ Dies sind für ihn: eine globale Pandemie, ein Finanzkollaps, ein Dritter Weltkrieg, der Klimawandel und extreme Armut.

Im Februar 2017 starb Hans Rosling. Gemeinsam mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter hatte er das Buch bis dahin fast fertig. Es ist das Vermächtnis eines reichen Lebens. Stellenweise ist es allerdings arg pädagogisch ausgefallen: Seine zentralen Argumente wiederholt Rosling wieder und wieder. Spannender sind die Anekdoten aus seinem Leben, in denen er bekennt, wie oft auch er sich schon durch einen oberflächlichen Anschein hat täuschen lassen – auch wenn es um Leben und Tod ging. GREGOR HONSEL

Science-Fiction

Biopunk und Roboterliebe

Die Patentpiratin Jack verdient ihr Geld damit, die neuesten Medikamente nachzubauen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Doch ihre Kopie der Droge Zacuity, die eigentlich jede Art von Arbeit zu einer wahren Freude machen sollte, bewirkt, dass die Konsumenten sich wortwörtlich totarbeiten. Jack ist überzeugt, dass nicht ihr Nachbau, sondern das Ursprungspräparat schuld ist. Sie will ihre Unschuld beweisen, doch ein Agent der Pharmakonzerne hat sich bereits an ihre Fersen geheftet. Der Roman ist vollgestopft mit klugen Ideen über einen entfesselten Plattform-Kapitalismus, Open-Source-Biotechnik und Roboterliebe. Nicht alle diese Stränge werden wirklich auserzählt, aber man sollte die Autorin im Auge behalten. WOLFGANG STIELER

Annalee Newitz: „Autonom“. Fischer Tor, 352 Seiten, 14,99 Euro (E-Book 12,99 Euro)

Internet

Rufer in der Wüste

Jaron Lanier klagt an: Soziale Netzwerke wie Facebook und Internetkonzerne wie Google überwachen uns, manipulieren unser Verhalten, machen Politik unmöglich und uns zu ekligen, rechthaberischen Menschen. Sein Gegenmittel: Wir müssen alle unsere Accounts löschen.

Der Internet-Vordenker erklärt die wissenschaftlichen Grundlagen von Verhaltenskontrolle und Suchtmechanismen und diskutiert persönliche und gesellschaftliche Konsequenzen der Geschäftsmodelle von Facebook und Co. Natürlich ist Lanier nicht der Erste, der dieses Thema aufgreift, aber er spitzt kräftig zu und ist dabei auch noch ziemlich unterhaltsam. In der zweiten Hälfte des Buches lassen Tempo und Dichte zwar etwas nach, die Lektüre lohnt sich aber auf jeden Fall. Wolfgang Stieler

Jaron Lanier: „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“. Hoffman und Campe, 209 Seiten, 14 Euro (E-Book 10,99 Euro)

Klassiker neu gelesen

Unsterbliche Gene

Als Richard Dawkins in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts das „egoistische“ Gen in den Ring warf, brachte er die Evolutionstheorie auf eine erfrischend neue Ebene: weg vom zentralen Dogma der Verhaltensforscher, für die sich in der Evolution alles um die Erhaltung der eigenen Art drehte, hin zum unscheinbaren Träger der Erbinformation. Seither ist der Brite zwar für seinen Kunstgriff, das Gen zu personifizieren, oft kritisiert worden. Gleichwohl gelang dem 1941 geborenen Biologen mit seinen anschaulichen Bildern ein neuer Blick auf die Evolution. Weg von den Arten, hin zu den Genen. Wobei Dawkins leider damals den Vorschlag seines Verlegers ablehnte, den bis heute faszinierenden Klassiker anders zu benennen. Denn der alternative Titel hätte noch besser vermittelt, worum es eigentlich geht: das unsterbliche Gen.

Besonders spannend ist es heutzutage zu sehen, wie der wissenschaftliche Fortschritt in der Biotechnologie Dawkins’ revolutionären Ansatz quasi aufgreift und weiterführt. Denn erst in den vergangenen Jahren wurde anhand des Genom-Editing-Verfahrens CRISPR/Cas ein wirklich selbstsüchtiges Gen im wahrsten Sinne des Wortes kreiert: Es kann sich nicht nur selbst in das Erbmaterial eines Organismus einfügen, sondern vermag es auch, alle Nachkommen zu kapern. Die Durchmischung des Erbmaterials, bei geschlechtlicher Fortpflanzung das normale Ergebnis, findet nicht statt. Forscher bezeichnen das Phänomen als Gene Drive. Zurzeit wird beispielsweise an Genen geforscht, die Mücken unfruchtbar machen können – und sich per Gene Drive rasend schnell in einer Population ausbreiten können. Die Ausrottung der Überträger-Insekten könnte in bestimmten Gegenden etwa Krankheiten wie Malaria oder das Dengue-Fieber eindämmen.

Zugleich erhärtet die neue Ära der Gentechnik Dawkins’ Modell vom Menschen als einer „Überlebensmaschine“. Damit desillusionierte der Autor bereits in der Vergangenheit seine Leser. Auch diese Debatte über die Existenz eines freien Willens ist bis heute brandaktuell. Dawkins selbst dagegen widmete als erklärter Atheist einen Großteil seiner Arbeit und seines Werks seither einem anderen ebenso fundamentalen Thema: dem „Gotteswahn“. INGE WÜNNENBERG

Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Springer Verlag, 264 Seiten, 1. Auflage 1978