MIT Technology Review 4/2019
S. 10
Aktuell

Drogen gegen Depression

Die USA haben den chemischen Zwilling der Partydroge „Special K“ als letztes Mittel bei unbehandelbaren Depressionen zugelassen. Eine Verzweiflungstat oder echter Fortschritt?

Erstmals werden psychotrope Substanzen zur Behandlung zugelassen. Foto: Shutterstock

Die Nachricht sorgte für Gesprächsstoff unter Psychiatern: Anfang März ließ die amerikanische Zulassungsbehörde FDA ein Nasenspray für schwer behandelbare Depressionen zu. Es geschieht derzeit selten, dass jemand überhaupt neue Arzneien gegen Depressionen herausbringt. Der eigentliche Aufreger aber war: Der Wirkstoff ist ein chemischer Zwilling der Partydroge „Special K“. Sie besteht aus einem Gemisch von zwei spiegelbildlichen Ketamin-Molekülen. Je nach Variante haben die Substanzen unterschiedliche Wirkungen im Körper. Im neuen Medikament gibt es nur eine der beiden Varianten in reiner Form.

Der Hersteller Janssen-Cilag, eine Tochter des US-Pharmakonzerns Johnson & Johnson, hat im Oktober 2018 auch bei der europäischen Arzneimittelbehörde Ema die Zulassung beantragt. Studien laufen hierzulande bereits.

Die Zulassung in den USA ist an hohe Auflagen geknüpft – eben weil der Stoff ein beliebtes Suchtmittel ist. Esketamin, so der offizielle Wirkstoffname, darf nur Patienten gegeben werden, denen zwei gängige Antidepressiva – im Verein mit einer Psychotherapie – nicht geholfen haben. Ärzte nennen das „therapieresistente Depression“. Sie ist häufig. Rund 35 Prozent der Patienten kommen aus der Krankheit nicht mehr dauerhaft heraus. Für sie kommt nun Esketamin zusätzlich zu einem herkömmlichen Antidepressivum infrage.

Allerdings dürfen die Betroffenen das neue Medikament nicht mit nach Hause nehmen, sondern müssen es im Beisein eines Arztes oder von Pflegepersonal einnehmen und sich dann für zwei Stunden überwachen lassen. Aus gutem Grund: Esketamin kann den Blutdruck erhöhen, Angst und Schwindel hervorrufen und – die bedenklichste Nebenwirkung – sogenannte Dissoziationen auslösen. „Die Betroffenen haben dann zum Beispiel das Gefühl, nicht mehr im eigenen Körper zu sein, oder sie fühlen sich fremd im Raum. Auch regelrechte Horrortrips sind nicht ausgeschlossen“, sagt der Neurologe und Psychiater Philipp Sterzer von der Berliner Charité. Die Behandelten dürfen gemäß Zulassung der FDA am selben Tag nicht mehr Auto fahren oder Maschinen betätigen.

Auch in Deutschland konnten Psychiater bereits Erfahrungen mit Ketamin sammeln. Es ist ein legales Betäubungsmittel. Obwohl es gegen Depressionen noch nicht zugelassen ist, dürfen es Klinikärzte „off label“ bei sonst nicht behandelbaren Patienten einsetzen. „Bei Notfällen, die mit schwerer Depression und Selbstmordgedanken eingeliefert werden, kann Ketamin sehr gut und sehr schnell helfen“, sagt Thomas Messer, Psychiater und Chefarzt an der privaten Danuvius Klinik im bayerischen Pfaffenhofen. Er ist einer der Ärzte, die zurzeit an den hier laufenden Zulassungsstudien mitwirken. Auch sein Kollege Sterzer von der Charité setzt seit rund zwei Jahren bei sonst nicht behandelbaren Patienten Ketamin ein. Es werde über die Vene verabreicht, da es als Nasenspray noch nicht verfügbar sei. „Die Erfahrungen damit sind gut“, sagt Sterzer.

Spravato lautet der Handelsname einer Variante der Partydroge „Special K“. Foto:AP/ Dpa Picture-Alliance

Die schnelle Wirkung in ein bis zwei Tagen ist das Hauptargument für Ketamin. Gängige Antidepressiva benötigen einige Wochen, bis sie ansprechen. Aber ist Ketamin dann mehr als ein Notfallmedikament? „Was langfristige Wirkungen und Nebenwirkungen angeht, sind noch Fragen offen“, sagt Messer.

Die Ergebnisse der Zulassungsstudien aus den USA sind in dieser Hinsicht ebenfalls nicht eindeutig. Zwei von drei vierwöchigen Kurzstudien mit bis zu 227 Probanden konnten keine Überlegenheit gegenüber Placebos feststellen. Vielversprechender liest sich die Langzeitstudie des Herstellers über 84 Wochen – allerdings nur an 67 Patienten. Mit dem Esketamin-Nasenspray, zusätzlich zu einem gängigen Antidepressivum verabreicht, sank das Risiko für einen Rückfall um 51 Prozent im Vergleich zum Antidepressivum allein.

„Wir hoffen alle, dass Ketamin eine Art Türöffner ist“, sagt Messer. Patienten würden dann einer Psychotherapie erst zugänglich. Belegt ist dieser Effekt noch nicht. Unklar ist auch, welche Langzeitfolgen das Inhalieren von Esketamin hat. Eine Veröffentlichung im Fachjournal „Lancet Psychiatry“ von 2018 warnte vor Blasenentzündungen, Leberschäden und Gedächtnisverlust. „Wir brauchen bessere Langzeitdaten, gerade was die Fragen der Abhängigkeit und der Psychosen angeht“, sagt Sterzer. Es ist eben doch eine Droge. Immerhin ist die Dosis, die gegen Depressionen ausreicht, deutlich geringer als die für einen Trip.

Messer und Sterzer halten es für wahrscheinlich, dass die Ema Esketamin ebenfalls im Einzelfall für Depressive erlauben wird. Wie streng sie dabei sein wird, ist allerdings noch offen. Erst einmal hat sie die Auflagen für die erforderlichen Studien erhöht: So müssen mehr Probanden einbezogen werden, deutet Messer an, ohne weitere Details zu nennen. Eine Zulassung in der EU könnte seiner Einschätzung nach frühestens 2020 erfolgen.

Ist die Karriere von Ketamin auch der Verzweiflung geschuldet, weil es immer mehr unbehandelbar Depressive gibt? „Nein, Ketamin hat sich kurzzeitig und in einigen Fällen schon bewährt“, sagt Messer. Es sei auch keine Wunderwaffe. Die gewaltige Zahl an Menschen mit chronischer Depression wird damit allenfalls schrumpfen, nicht verschwinden. „Erst neulich hatte ich einen Patienten, der Ketamin off label bekommen hat. Es hat ihm nicht geholfen.“

Die Zulassung von Esketamin ist trotzdem ein Wendepunkt, weil damit eine Ära für eine ganz neue Klasse von Antidepressiva – den psychotropen Substanzen – beginnen kann. Dazu gehören Psilocybin, der Wirkstoff der Magic Mushrooms, und Opiode. Fürsprecher hoffen, dass solche Stoffe das Gehirn über die bewusstseinserweiternde Wirkung für ein Umlernen und ein Neuaustarieren der Stoffwechselprozesse vorbereiten. Die Forschung damit, erwartet Messer, erfahre nun einen Schub. SUSANNE DONNER

Interview

Vergessene Entsorgung

Nils Morten Huseby leitet das norwegische Institut für Energietechnologie. Es ist für den Betrieb von vier Forschungs-Reaktoren zuständig. Zwei davon wurden stillgelegt, aber nicht beseitigt. Trotzdem wurden sie in einer Abschätzung der Rückbaukosten vergessen. Wie war das möglich? Foto: Mick Tully/ IFE

TR: In Norwegen wurden neulich zwei Atomreaktoren gefunden. So jedenfalls titelten der norwegische Rundfunk und auch deutsche Medien. Wie können zwei Atomreaktoren so einfach verschwinden?

Huseby: Die Medienberichte in Norwegen waren wirklich unpräzise. Was tatsächlich geschah: Die beiden alten Forschungsreaktorblöcke, die in Kjeller stehen, wurden in den 1960er-Jahren nach den damals geltenden Regeln als „stillgelegt“ klassifiziert. Das bedeutete, dass der Brennstoff und das schwere Wasser entfernt und die Reaktoren in einem sicheren Zustand verschlossen wurden, in dem sie bis heute verharren. 2015 gab die Regierung einen Bericht in Auftrag, um die Kosten für die Abwicklung des gesamten norwegischen Nuklearforschungsprogramms abschätzen zu können. Die externen Berater interpretierten das Wort „stillgelegt“ aber als „beseitigt“. Somit waren die Kosten für deren Entsorgung nicht in dem Bericht enthalten.

Wer waren die Berater?

Der Report wurde 2015 von der norwegisch-deutschen Klassifikationsgesellschaft DNV GL erstellt. Im folgenden Jahr führte ein Beratungskonsortium von Atkins und Oslo Economics die Qualitätskontrolle des Berichts durch. Keine der Consultingfirmen erkannte, dass „stillgelegt“ nicht „beseitigt“ bedeutet. Jetzt wird es teuer. Die Regierung muss wohl eine neue Kalkulation erstellen lassen.

Enthalten die alten Reaktorblöcke Radioaktivität?

Das vermuten wir. Aber es wurde nicht wirklich untersucht. Wir müssen jetzt die Radioaktivität messen und kartieren. Viel wird es nicht sein.

Im vergangenen Jahr wurde das Management Ihres Instituts dafür verantwortlich gemacht, dass radioaktiver Müll illegal deponiert wurde. Was war passiert?

IFE verantwortet die nationale Deponie für schwach- und mittelradioaktiven Abfall im Auftrag der Regierung. Wir wurden wegen des Verstoßes gegen die Zulassungsbedingungen angezeigt. Das wird derzeit von der Polizei untersucht. INTERVIEW: HANNS-J. NEUBERT

MEDIZIN

Parasiten als Medikament-Taxis

Der Parasit Toxoplasma gondii soll die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Foto: Wikipedia

Viele Medikamente aus Proteinen können die Blut-Gehirn-Schranke nicht durchdringen. Das erschwert die Behandlung von neuronalen Krankheiten.

Forscher aus Tel Aviv, Edinburgh und Glasgow wollen Wirkstoffe nun mit dem Parasiten „Toxoplasma gondii“ ins zentrale Nervensystem transportieren. Er ist von Natur aus darauf spezialisiert, das Gehirn von Katzen, seinem Endwirt, und anderen Wirbeltieren wie Menschen als Zwischenwirt zu infiltrieren.

Die Wissenschaftler schleusten dazu Gene für verschiedene Proteine von Maus und Mensch ins Parasiten-Erbgut ein. Anschließend infizierten sie Maus-Nervenzellen mit den genetisch veränderten Parasiten. Tatsächlich wurden einige der eingeschleusten Gene in den Nager-Neuronen abgelesen und bildeten teilweise Proteine in therapeutisch wirksamen Mengen.

Die Forscher hoffen, später auf diese Weise schwere neuronale Krankheiten wie das nur bei Mädchen vorkommende Rett-Syndrom behandeln zu können. Zu den Symptomen gehören autistisches Verhalten, Demenz und gehemmtes Spielverhalten. VERONIKA SZENTPÉTERY-KESSLER