MIT Technology Review 3/2020
S. 104
Fundamente
Jubiläum

Der Absturz

Vor zwanzig Jahren erreichte der Dotcom-Boom seinen Höhepunkt. Dann platzte die Blase.

Bookbuilding, Cash-Burn-Rate, Call-Optionen – solche Vokabeln eroberten Ende der Neunziger die Gespräche in Kantinen, Kneipen und Usenet-Foren. Der Börsengang der Telekom hatte die sparbuchverliebten Deutschen 1996 auf die Existenz einer Anlageform namens Aktie aufmerksam gemacht. Das World Wide Web wurde erwachsen, und es ­zwitscherte aus allen Modems: Kein Stein der „Old Economy“ werde auf dem anderen bleiben.

Die Arena dafür war hierzulande der 1997 eröffnete „Neue Markt“, ein Börsensegment mit gelockerten Regeln nach Vorbild der Nasdaq. Zu Spitzenzeiten gingen mehrere Start-ups pro Woche „public“. Ihre Geschäftsmodelle waren oft kryptisch, den Anlegern aber auch weitgehend egal – Hauptsache, irgendwas mit Internet. Gekauft wurde, was die Onlinebroker her­gaben. Den Vogel schoss im Februar 2000 die kleine hessische Firma Biodata ab, die Firewalls und Verschlüsselungssoftware anbot. Ihr Kurs stieg binnen Stunden von 45 auf über 300 Euro.

Das viele Geld landete nicht notwendigerweise in der Entwicklung funktionierender Produkte. Im Januar 2000 etwa buchten 14 US-Dotcoms für durchschnittlich 2,2 Millionen Dollar Werbespots während des Super Bowls. Erst einmal Reichweite und Bekanntheit schaffen, hieß es, bevor Geld verdient wird.

EM.TV- Gründer Thomas Haffa im Dezember 2000; Kursverlauf des Nemax 50 von 1997 bis 2003.
Foto: Reuters/Michael Dalder

Drei Monate danach erreichten die Börsenindizes ihre vorläufigen Höchststände. Der Nemax 50, der die größten Werte des Neuen Marktes umfasste, stieg am 10. März auf das Allzeithoch von 9666 Punkten, eine Verzwanzig­fachung innerhalb von zwei Jahren. Dann ­begann der Abstieg. Das erste Fanal war die Pleite des Online-Modehändlers boo.com im Mai 2000. Er hatte in den nur 18 Monaten seines Bestehens monatlich im Schnitt 7,5 Mil­lionen Dollar an Risikokapital verbrannt – ­unter anderem durch Werbung für eine überladene Webseite, die sich mit den damaligen 56k-Modems kaum laden ließ. Als erstes Unternehmen aus dem Neuen Markt meldete im September 2000 der Internetprovider Gigabell Insolvenz an.

Die New Economy sah plötzlich alt aus – in Deutschland aber noch etwas älter. „Im Vergleich zu den USA wurde die deutsche Dotcom-Blase stark von kriminell agierenden Unternehmern geprägt“, schrieb Heise Online im Rückblick. Dazu gehörten auch zwei Popstars der Branche: Die Brüder Thomas und Florian Haffa, Gründer des Medienunternehmens EM.TV. Sie wurden wegen Insiderhandels und Kursbetrug zu hohen Geldstrafen verurteilt. Auch Firmen wie Biodata, Comroad, Metabox und Infomatec wurden Luftbuchungen und erfun­dene Erfolgsmeldungen nachgewiesen.

Im März 2003 schloss die Deutsche Börse den Neuen Markt, nachdem er 96 Prozent an Wert und die Anleger rund 200 Milliarden Euro verloren hatten. Zum Vergleich: Die Rettung der deutschen Banken 2008 hat die Steuerzahler bisher knapp 60 Milliarden gekostet. Weniger als die Hälfte der mehr als 300 am Neuen Markt notierten Unternehmen existieren noch.

War die Dotcom-Blase nur eine wie jede andere? „Sie ließ nicht nur Zerstörung zurück“, meint das Wirtschaftsmagazin „Capital“. „Die Exzesse der 1990er schufen die Grundlage für die digitale Wirtschaft, die eine Dekade später jeden Winkel der Welt durchdrungen hat.“ Die „Neue Zürcher Zeitung“ sekundiert: „Die Blase bildete die technologische Infrastruktur des Internets und brachte mit Google und Amazon einige der heute erfolgreichsten Firmen der Welt hervor.“

Etwas anders sieht das Torsten Gerpott, ­Professor an der Uni Duisburg-Essen und ­Experte für Telekommunikationsnetze: „Der massive Ausbau von Datennetzen für Nutzer an festen Standorten und unterwegs erfolgte hierzulande erst sechs bis sieben Jahre später. Angesichts dieses großen zeitlichen Abstands kann ich da keine Kausalität erkennen.“

Für den Aktienmarkt hatte das Platzen der Blase eine paradoxe Folge: Um dem Konjunktureinbruch Anfang der 2000er entgegenzuwirken, startete die USA ihre bis heute anhaltende Niedrigzinspolitik. Das wiederum trieb die Anleger verstärkt in den Aktienmarkt. Der Nasdaq hat seinen Einbruch mittlerweile nicht nur weggesteckt, sondern sogar seinen Rekordstand vom März 2000 fast verdoppelt. Gregor Honsel