MIT Technology Review 5/2020
S. 104
Fundamente
Jubiläum

Gegen den Uhrzeigersinn

Vor 400 Jahren entdeckte ein englischer Reisender ein neues Spielzeug: das Karussell.

Eine übertriebene Rücksicht auf die Befindlichkeit seiner Leser konnte man Peter Mundy (1596–1667) nicht nachsagen. Am 17. Mai 1620 notierte der englische Hand­lungsreisende, wie er im osmanischen Philippopel (Plowdiw, heute Bulgarien) auf die abgenagten Gebeine hingerichteter Verbrecher trifft. Dies dient ihm zum Anlass, ausführlich die ortsüblichen Hinrichtungs- und Foltermethoden zu referieren. Anschließend fährt er in schönster Monty-Python-Manier („…and now for something completely different“) fort: „Um Ihre Gedanken von diesen äußerst grausamen Strafen abzulenken, werde ich mich nun den dortigen Vergnügungen zuwenden.“ Und so blieb der Nachwelt die erste Darstellung eines ­Karussells und eines Riesenrads erhalten. Mundy skizzierte sie in seinem Reisebericht genauso liebevoll wie zuvor die verschiedenen Varianten des Pfählens.

Die Zeichnung des englischen Reisenden Peter Mundy dokumentierte erstmalsKarussell, Riesenrad und Schaukel.
Quelle: https://archive.org/details/travelsofpetermu01mund/page/58/mode/2up

Das Karussell bestand aus einem Holzrad, an dem acht Kindersitze baumelten. Das Riesenrad hatte Platz für zehn Kinder und wurde von Menschen angeschoben. Am ausführlichsten beschreibt Mundy eine Schaukel, die zwischen zwei hohen Pfosten hing. Seinen Zeitgenossen, die von solcher Leibesübung offenbar noch nie ­gehört hatten, erklärt er, wie sich durch regelmäßiges Vor- und Zurückbeugen eine erstaunliche Höhe gewinnen lässt.

Ob Mundy an diesem Tag tatsächlich auf ein Volksfest traf, ist offen. Ein paar Zeilen später berichtet er, dass die Pest in Philippopel herrsche und er schleunigst weiterziehe. Demzufolge markiert der 17. Mai 1620 auch nicht die Erfindung des Karussells, wie oft kolportiert, sondern nur die erste schriftliche Erwähnung im europäischen Kulturkreis.

Ohnehin ist das Prinzip sehr viel älter. Das Wort Karussell leitet sich ab vom französischen „carrousel“ oder dem italie­nischen „carosello“, was so viel wie „Ringstechen“ bedeutet. ­Bereits im Mittelalter trainierten Ritter für Turniere, indem sie von einer drehenden Plattform aus versuchten, aufgehängte Ringe mit ihren Lanzen zu treffen.

Das erklärt auch, warum sich Karussells meist gegen den Uhrzeigersinn drehen: So können Rechtshänder einfacher die Lanze nach außen richten. Außer in Großbritannien, dort rotieren die Karussells seit jeher andersherum. Der englische Karussellfan bevorzuge es, wie beim Pferderennen oder der Jagd mit dem „richtigen“, also dem linken Fuß im Steigbügel auf­zusitzen, so die Webseite „Kulturgut Volksfest“.

Anfang des 18. Jahrhunderts entdeckt die höfische Gesellschaft den Unterhaltungswert des Ritterspiels und lässt sich Karussells in den Garten bauen. Von dort aus erobern sie öffentliche Parks und Jahrmärkte für das einfache Volk. Als etwa 1766 der Wiener Prater eröffnet wurde, gehörte ein Pferdekarussell zu den Attraktionen. In Deutschland wurde das erste Karussell 1780 in Hanau-Wilhelmsbad aufgebaut. Es besteht aus zwei Ebenen: Oben kreisten hölzerne Pferde und Kutschen, darunter, für das Publikum unsichtbar, kurbelten Menschen die Plattform an. Das mechanische Wunderwerk wurde 2016 restauriert und ist seitdem wieder (elektrisch angetrieben) in Betrieb. Damit dürfte es das älteste noch laufende Karussell der Welt sein.

1863 war die Zeit der Muskelkraft zu Ende: In England wurde das erste dampfbetriebene Karussell in den Dienst gestellt. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich daraus eine ganze ­Industrie, die immer neue Raffinessen in ihre Karussells einbaute.

Einer der Pioniere hierzulande war Fritz Bothmann (1858– 1928). Er gründete 1883 in Gotha die erste deutsche „Manufaktur für den professionellen Bau von Karussells und anderen Volksbelustigungen“. Erstmals stellt er einzelne Bestandteile in Serie her, lässt sich den Schaukelmechanismus für Karussellpferde patentieren und exportiert seine Fahrgeschäfte ins Ausland. 1924 baut er auch den ersten Autoscooter. Damit wurden das Karussell und seine vertikale Schwester, das Riesenrad, zur Keimzelle aller Kirmesattraktionen. Gregor Honsel