Snaps Spectacles ausprobiert: Bis das Ohr weich wird
Snaps Spectacles sind ab sofort in Deutschland verfügbar. Eine spaßige, echte AR-Brille – aber noch kein Verbraucherprodukt.
Klobiges Gestell, ein breiter schwarzer Balken vor den Augen und kein Leichtgewicht: Snaps Spectacles sind in der fünften Generation angekommen und nun auch in Deutschland verfügbar. Der Stil sei "absichtlich ikonisch", sagt Daniel Wagner, Senior Director Software Engineering des Spectacles-Programms von Snap, bei einer Vorführung im Hamburger Büro. Alle sollten sofort sehen, um welche Brille es sich handelt. Auch die Vorgänger waren auffällig, aber eher bunt und rund. heise online konnte die Brille ausprobieren.
Die kastigen Spectacles sind eine echte Augmented-Reality-Brille. Man kann mit ihnen spielen, in der Luft malen, mit Freunden per Videotelefonie sprechen und die für Snapchat bekannten Lenses ausprobieren. Videos und Fotos gehören zu den Grundfunktionen. Dennoch: Für Verbraucher ist es noch kein fertiges Produkt. Snap möchte mit dem Abomodell, in dem die Brille verfügbar ist, Entwickler ansprechen. Zum Preis von 110 Euro im Monat gibt es Support – der beinhaltet vor allem auch den Austausch mit dem Entwicklerteam bei Snap.
AR-Brille mit Bodenhaftung
Um sie einzurichten, bedarf es eines Snapchat-Accounts, dann jedoch ist sie eigentlich ein Stand-alone-Gerät. Möchte man beispielsweise mit einem Snapchat-Kontakt telefonieren, bedarf es der weiteren Verknüpfung mit dem Konto, der Anruf läuft über die App.
Die Brille ist für breitere Köpfe gemacht. Schmale Gesichter können Stifte zwischen Bügel und Front klemmen, damit sie enger sitzt. Der Augenabstand wird vermessen. Die Spectacles haben einen 46 Grad augmentierbaren Bereich, erklärt Wagner. Das Sichtfeld ist tatsächlich kaum eingeschränkt, man kann sich relativ normal und sicher im Raum bewegen, wenn man die Brille trägt – keine Angst zu stolpern. Die Spectacles tragen sich deutlich anders als ein Headset wie Meta Quest oder Apple Vision Pro, mit denen man sich deutlich abgeschotteter von der Welt fühlt. Wenn man beim Spielen bei diesen Brillen den Boden unter den Füßen weggezogen bekommt, ersetzt durch das Universum oder ähnliche Szenarien, kann es einem schon schwindelig werden. Solche Effekte fallen mit Augmented-Reality und den Spectacles aus.
Mehr Kameras gegen die T-Rex-Pose
Seit der fünften Generation stecken in beiden Bügeln Prozessoren – welche genau verrät Snap nicht, nur dass sie von Qualcomm sind. Wagner sagt, dadurch funktioniere die Ableitung der Wärme besser. Richtig warm werden die Bügel bei unserem nicht ganz einstündigem Test nicht, die Ohren allerdings schon.
Zusätzlich zu den beiden Frontkameras gibt es zwei Infrarotkameras, die nach unten gerichtet sind. Sie verbessern das Handtracking, mit dem die Brille gesteuert wird. Laut Wagner würden einem sonst schnell die Arme abfallen, wenn man sie ständig nach oben halten muss. Intern nennen sie es die "T-Rex-Pose", wenn man seine Hände immer direkt vor der Kamera halten muss. Snap gibt das Gewicht der Brille mit 226 Gramm an.
Das Menü der Spectacles ist in einem schwebenden Display zu sehen. Man steuert es mit Zwick-Gesten der Finger ("Pinch"). Aus den Apps heraus kommt man über eine Bedienoberfläche in der Hand. Dort liegen virtuelle Buttons zum Beenden und um zurück in das Hauptmenü zu kommen.
Blumen wachsen von der Decke, Golfbälle rollen so dahin
Um zu sehen, wie gut die Brille ihre Umgebung erfasst, wählen wir eine App aus, die per Fingerzeig im Raum Blumen wachsen lässt. An den Wänden ranken Pflanzen wie Efeu, von der Decke hängen Blütentrauben. Die Spectacles können also Wand und Decke gut voneinander unterscheiden und erkennen sogar die breiten Rohre, die an der Decke entlanglaufen.
Mit einer anderen App kann man im Together-Modus gemeinsam im Raum malen. Beide Teilnehmer sehen das gleiche Luftgebilde. Es gibt ein Spiel, bei dem man auf einen zufliegende Kisten kaputt boxen muss. Auch ein Browser kann virtuell genutzt werden, dessen Steuerung ist allerdings sehr friemelig. Die Tastatur schwebt klein vor einem, die richtigen Tasten zu erwischen, ist schwierig. Trotzdem lassen sich Webseiten in der Mobilversion gut lesen, während man noch einen guten Überblick über den Raum hat, in dem man sich befindet. Die Gläser können sich verdunkeln. Das geschieht bei den Spectacles elektrochromatisch. Das, was man aus normalen Brillen oder den Meta Ray-Ban Glasses kennt, ist eine photochromatische Verdunkelung, also eine Reaktion.
Beim Golfen mit der Brille nutzt man sein Smartphone als Schläger. Den Ball mit Wucht zu treffen, ist allerdings auch eine kleine Herausforderung. Er liegt vor einem auf dem normalen Fußboden. Erst wenn man hochschaut, erscheint der Bildschirm, in dem das Grün zu sehen ist, über das der Ball dann rollt (oder fliegt, wenn man besser ist).
Künstliche Intelligenz zieht erst noch ein
KI ist bei Snap bereits sehr früh in Form eines KI-Chatfreundes eingezogen – My AI. Dafür hat das Unternehmen eine Partnerschaft mit OpenAI. Eigene Entwicklungen sind zunächst nicht angedacht. Aber auch My AI ist über die Brille erreichbar. Man kann also Fragen stellen zu Objekten, die man sieht. Das funktioniert auch bereits mit Metas Ray-Ban Glasses, allerdings nicht in der EU, weil Meta AI hierzulande noch zurückgehalten wird. Aus regulatorischen Gründen, wie Meta versichert. Um Druck auf die Regulierer auszuüben, wie andere meinen.
An vielen praktischen Funktionen, wie etwa der Navigation, arbeitet Snap noch. Es ist allerdings auch kaum vorstellbar, dass jemand mit dem Gerät den ganzen Tag eine neue Stadt erkunden möchte. So weit ist Augmented-Reality noch nicht. Noch. Man kann sich gut vorstellen, dass die Spectacles bald Teil der neuen Gerätekategorie werden, von der auch beispielsweise Mark Zuckerberg spricht. Er hat seine Orion bisher nur als Prototypen ausgewählten Personen gezeigt. Da ist Snap weiter. Doch nach 45 Minuten verlässt einen nicht nur der Akku, auch das Ohr der Testerin macht schlappt – im wahrsten Sinne des Wortes, es klappt unter dem Gewicht einfach ab und hält die Brille nicht mehr.
(emw)