Erdbeben in Japan: Pläne zur Kontrolle eines havarierten AKW

In Japan stieg die Zahl der Toten auf über 13.800. Im Kampf gegen die nukleare Katastrophe hat der Kraftwerksbetreiber mittlerweile einen Plan. Die Arbeiten werden weiter durch starke Radioaktivität behindert, die Verseuchung der Umwelt geht weiter.

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Von
  • Jürgen Kuri

Seit dem verheerenden Erdbeben der Stärke 9 und den darauf folgenden Flutwellen am 11. März sind die Opferzahlen ständig weiter gestiegen. Am Montagmorgen (18.4.) sprach die japanische Polizei von 13.843 Toten, einschließlich der Opfer der besonders schweren Nachbeben am 7. und 11. April. Derzeit werden noch 14.030 Menschen als vermisst geführt; Vermisste aus Sendai, der Hauptstadt der am stärksten betroffenen Präfektur Miyagi, sind darin allerdings nicht enthalten, da man derzeit mögliche Mehrfachmeldungen prüfe, hieß es. Knapp 140.000 Menschen leben noch in Notunterkünften.

Die Lage im außer Kontrolle geratenen AKW Fukushima Daiichi mit seinem insgesamt 6 Reaktoren hat sich in den letzten Tagen nicht gebessert, die Arbeiten zur Wiederherstellung der Kontrollfunktionen und der Kühlsysteme für die Reaktoren konnten am Wochenende aufgrund hoher gemessener Radioaktivität praktisch nicht durchgeführt werden. Außerhalb der Reaktorgebäude vor den Eintrittschleusen wurden am Freitag 2 bis 4 MilliSievert pro Stunde gemessen, in den Schleusen lag die Dosis bei 270 MilliSievert pro Stunde (Reaktor 1), 12 MilliSievert pro Stunde (Reaktor 2) beziehungsweise 10 MilliSiervert pro Stunde (Reaktor 3). Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power setzt mittlerweile Roboter ein, um die Radioaktivität innerhalb der Reaktorgebäude zu messen, dabei wurden Dosen von 10 bis 49 MilliSiervert pro Stunde im Reaktorgebäude 1 und 28 bis 57 MilliSiervert pro Stunde im Reaktorgebäude 3 festgestellt. In der Umgebung des Kraftwerks und im Meerwasser vor der Küste Fukushimas waren in den vergangenen Tagen immer wieder stark erhöhte Radioaktivität und Kontamination mit radioaktiven Isotopen festgestellt worden.

Für die Arbeiter in dem havarierten AKW hatte die japanische Regierung die Maximaldosis auf 250 MilliSievert festgelegt. Die mit der UN assoziierte Atomenergieorganisation IAEA hält eine radioaktive Dosis durch die natürliche Umweltstrahlung von 0,2 bis 0,3 MikroSievert pro Stunde (2,4 MilliSievert pro Jahr) für normal, in Deutschland liegt die natürliche Umweltstrahlung bei bis zu 0,2 MikroSievert pro Stunde (1,7 MilliSievert pro Jahr). Im Artikel Die unsichtbare Gefahr erläutert Veronika Szentpetery von Technology Review, was die erhöhten Strahlungswerte im AKW Fukushima Daiichi und in der Umgebung bedeuten.

Nachdem die Kritik am chaotischen Vorgehen von Tokyo Electric Power immer lauter wurden, legte der Kraftwerksbetreiber am Sonntag (17. April) immerhin schon mal einen Plan vor, wie es denn weitergehen soll. Darin sind zuerst die beiden nächsten Hauptziele formuliert: 1. die ständige Senkung der freigesetzten Radioaktivität (dies soll drei Monate dauern); 2. die Freisetzung radioaktiven Materials ist unter Kontrolle und die Radioaktivität wird signifikant niedrig gehalten (nach einem Zeitraum von drei bis sechs Monaten). Die dringendsten Aufgaben sieht Tokyo Electric Power in der Kühlung der Reaktoren und Abklingbecken, der Senkung der freigesetzten Radioaktivität und der Überwachung und Dekontamination. Viel konkreter wird der Plan allerdings nicht; es heißt von Tokyo Electric Power lediglich, in den nächsten drei Monaten soll eine stabile Kühlung für die Reaktoren und Abklingbecken erreicht und innerhalb von sechs Monaten sollen die Reaktoren in einen stabilen, heruntergefahrenen Zustand überführt werden. Spätestens nach neun Monaten will man dann die Situation im Kraftwerk so weit im Griff haben, dass man von einer normalen Lage sprechen und unter Umständen die beschädigten Reaktoren demontieren kann. Außerdem möchte Tokyo Electric Power den Menschen, die aus dem Umkreis des Kraftwerks evakuiert wurden, einen Plan vorlegen, wie ihre Zukunft aussehen kann.

Dass der Kraftwerksbetreiber, um die Ziele dieses Plans zu erreichen, noch einiges vor sich hat und keineswegs sicher ist, dass die Ziele erreicht werden können, illustriert die aktuelle Situation in Fukushima Daiichi. Die Stromversorgung zu den Reaktoren ist zwar wieder intakt, aber die Kontrollräume und die Sensoren arbeiten noch nicht wieder ausreichend, die normalen Kühlsysteme sind nicht in Betrieb; es wird extern Wasser zur Kühlung zugeführt. Ob die Kühlsysteme, die nach dem Erdbeben und dem Tsunami durch Versagen der Stromversorgung und die Explosionen im Kraftwerk ausfielen, wieder in Betrieb gesetzt werden können beziehungsweise welche Reparaturen notwendig sind, ist weiter unklar. Im Reaktor 2 steigt das stark kontaminierte Wasser, das im Reaktorgebäude steht, weiter an, nachdem es durch Ableiten in Tanks beziehungsweise den Condenser kurzfristig gesunken war. Das Abpumpen wird teilweise konterkariert durch die für die Kühlung weiter notwendige externe Zufuhr von Wasser. Um das Wasser aus den Reaktorgebäuden entfernen zu können, hatte Tokyo Electric Power 11.500 Tonnen schwach radioaktiven Wassers aus Tanks ins Meer abgelassen – da die Tanks voll waren, konnte kein weiteres Wasser aus den Reaktorgebäuden abgepumpt werden. Die Radioaktivität im ins Meer ausgeleiteten Wasser soll etwa 100-fach über dem eigentlich erlaubten Grenzwert gelegen haben.

Da die Arbeiten derzeit praktisch keine Fortschritte machen, zeigt auch der aktuelle Statusreport des japanischen Atomforums vom 18. April 16:00 japanischer Zeit (8:00 MEZ) kaum eine Änderung in der Lag in Fukushima Daiichi. Auch der Bericht hebt darauf ab, dass die starke Radioaktivität in den Kraftwerksgebäuden die Versuche, die Reaktoren wieder in den Griff zu bekommen, stark behindert. Nach dem Beben am 11. März kam es in den Reaktorgebäuden zu Stromausfall, was die Kühlsysteme lahmlegte. Explosionen zerstörten die Reaktorgebäude teilweise schwer, es gab zudem große Schäden am Containment; teilweise werden sogar Beeinträchtigungen der Reaktordruckbehälter vermutet. Durch die fehlende Kühlung wurden die Brennelemente in den Reaktoren 1 bis 3 beschädigt, die Reaktorkerne sind ganz oder teilweise freigelegt; es gab teilweise Kernschmelzen, die Gefahr weiterer Kernschmelzen ist noch lange nicht gebannt. Für die Reaktoren 1, 2 und 3 wird ein Beschädigungsgrad der Brennelemente von 70, 30 und 25 Prozent angegeben; dies beruhe auf Schätzungen durch Tokyo Electric Power anhand der gemessenen Radioaktivität im Containment. Die Abklingbecken für abgebrannte Brennstäbe bei den Reaktoren 3 und 4 sind nicht ausreichend mit Kühlwasser versorgt, die Brennstäbe in den Becken teilweise beschädigt. Für die Reaktordruckbehälter heißt es immer noch, ihr Zustand sei, was die strukturelle Integrität angehe, unbekannt. Das Containment von Reaktor 1 und 3 soll nicht beschädigt sein, bei Reaktor 2 soll es Beschädigungen und Lecks geben. Im Wasser, das im Gebäude des Reaktors 2 und den nach außen führenden Kanälen steht, wurden Radioaktivitätswerte von mehr als 1000 MilliSievert pro Stunde gemessen. In Reaktor 4 wurden in Wasseransammlungen in Schächten Belastungen von 100 MilliSievert pro Stunde festgestellt.

Die Atomic Energy Society of Japan (AESJ) hatte vergangene Woche erklärt, dass die Kernbrennstäbe in den Reaktoren 1 bis 3 tatsächlich teilweise geschmolzen seien und sich wahrscheinlich als granulares Material am Boden der Druckbehälter abgesetzt habe. Allerdings sei die gemessene Temperatur relativ niedrig, sodass es unwahrscheinlich sei, dass große Mengen an geschmolzenen Brennstäben angefallen seien. Eine Rekritikalität (das ungeplante Wiedereinsetzen der Kettenreaktion) sei zudem aller Voraussicht nach auszuschließen: Man gehe davon aus, dass sich die Körner aus geschmolzenen Brennelementen, die einen Durchmesser zwischen einigen Millimetern und einem Zentimeter haben sollen, gleichmäßig auf dem Boden der Druckbehälter verteilt haben.

Die japanische Atomaufsichtsbehörde NISA hatte in der vergangenen Woche ihre Einschätzung über die Schwere der Nuklearkatastrophe in Fukushima Daiichi korrigiert. Sie ordnet die Unfälle in dem Atomkraftwerk vorläufig nun auf International Nuclear Events Scale (INES) auf der höchsten Stufe 7 (major accident) und damit auf der gleichen Stufe wie den Tschernobyl-Unfall ein. Die Korrektur der Einstufung von 5 auf 7 erfolge aufgrund der Informationen über die Vorgänge im Kraftwerk und die Kontamination der Umwelt, die man nach dem 18. März erhalten habe. Die Einstufung werde nach Untersuchungen durch Nuklearexperten endgültig festgelegt. Der Unfall in Harrisburg (Three Mile Island) ist auf INES auf Stufe 5 (accident with wider consequences) eingeordnet, die Katastrophe von Tschernobyl auf der höchsten Stufe 7 (major accident). Im AKW Three Mile Island war es zu einer Kernschmelze gekommen. In Tschernobyl kam es zu schweren Explosionen eines Reaktors, bei denen große Mengen radioaktiven Materials in die Umwelt ausgesetzt wurden und sich über weite Teile Europas verteilten. Bis heute sind auch in einigen Regionen Deutschlands vor allem Pilze und Wildtiere stark radioaktiv belastet.

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

Zu den technischen Hintergründen der in Fukushima eingesetzten Reaktoren und zu den Vorgängen nach dem Beben siehe:

  • Roboter und die Katastrophe in Japan
  • Lesen in den Isotopen, Spaltprodukte aus dem AKW Fukushima I finden sich inzwischen in aller Welt und erlauben Forschern neue Einblicke in den GAU in Fernost
  • Die unsichtbare Gefahr, Technology Review ordnet die Strahlenbelastungen im AKW Fukushima Daiichi und seiner Umgebung ein
  • Japan und seine AKW, Hintergrund zu den japanischen Atomanlagen und zum Ablauf der Ereignisse nach dem Erdbeben in Telepolis
  • Der Alptraum von Fukushima, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur Erschütterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".
  • 15 Meiler um eine Stadt, Martin Kölling berichtet direkt aus Japan: Atomingenieure in Tsuruga, der Stadt mit der höchsten Reaktorendichte der Welt, gruseln sich vor dem GAU in Fukushima
  • Mobilisierung im Netz: Auch in der Katastrophenhilfe ist das Internet zu einem mächtigen Instrument geworden, auf Technology Review

(jk)