Zweiter Jahrestag der Atomkatastrophe von Fukushima

Vor genau zwei Jahren löste ein Seebeben vor Japans Ostküste einen verheerenden Tsunami aus. Mehr als 15.000 Menschen kamen ums Leben, im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi kam es zur Katastrophe.

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Inhaltsverzeichnis

Heute vor genau zwei Jahren löste ein Seebeben vor Japans Ostküste einen Tsunami aus, der schwere Verwüstungen anrichtete und eine Atomkatastrophe entfesselte. Tagelang hielt die ganze Welt den Atem an und verfolgte, wie die immensen Ausmaße der Katastrophe Gestalt annahmen. Insgesamt mehr als 15.800 Menschen wurden getötet, viele werden noch immer vermisst. Im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi kam es zur schlimmsten Katastrophe in einem Atomkraftwerk seit Tschernobyl. In der Umgebung des japanischen AKW können Zehntausende noch immer nicht in ihre Häuser zurückkehren.

Auswirkungen des Tsunami im Vorher-Nachher-Vergleich

(Bild: DLR/Rapid Eye)

Nach Darstellung der Regierung und des AKW-Betreibers Tepco ist die Atomruine mittlerweile unter Kontrolle. Ein großes Problem bereiten jedoch die Unmengen Wasser, die zur Kühlung der beschädigten Reaktoren benötigt werden. 360.500 Kubikmeter verstrahlten Wassers habe sich inzwischen angesammelt. Die Auffangbehälter seien fast voll und Tepco erwäge ein erneutes Ableiten ins Meer, warnt die Zeitung Mainichi Shimbun.

Der Staat hat inzwischen mit enormem Aufwand die Dekontaminierung riesiger Landstriche veranlasst, um die Belastung überall unter einen Millisievert pro Jahr zu senken. Wo kein schweres Gerät wie Bagger eingesetzt wird, sind Menschen damit beschäftigt, Häuser mit Papiertüchern abzuwischen, Gräser und Blätter aufzusammeln und die obersten fünf Zentimeter des Erdbodens abzutragen. Das Ganze wandert in große schwarze Säcke, die sich nun zu Tausenden als kleine Atommüllhalden stapeln, auf Feldern, Höfen und an Straßenrändern. Denn ein Zwischenlager gibt es noch immer nicht.

Die Folgen des Tsunami, der auch zur AKW-Katastrophe in Fukushima führte (9 Bilder)

Zerstörte Ortschaft

Luftaufnahme aus Sukuiso, eine Woche nach dem Tsunami (Bild: NOAA/NGDC, Dylan McCord, U.S. Navy)

"Es wird zu viel Geld, Arbeitskraft und Zeit investiert, um diesen aussichtslosen Kampf in den hochkontaminierten Gebieten zu führen", kritisiert der Atomexperte Heinz Smital von der Umweltorganisation Greenpeace. Kritiker vermuten, dass die Regierung von Premier Shinzo Abe die Auswirkungen des Atomunfalls herunterspielen will, indem den Menschen eine frühzeitige Rückkehr erlaubt wird. Auf diese Weise wolle sie den Widerstand gegen ein Wiederanfahren der nach dem GAU im ganzen Land abgeschalteten AKWs aufweichen. Andere vermuten, dass der Staat so zudem die horrenden Entschädigungen senken wolle.

Satellitenaufnahme vom 12. März 2011, rot markiert sind die Gegenden, wo der Strom ausgefallen ist.

(Bild: DMSP/USAF/NOAA )

Nach dem Tsunami und der Katastrophe in Fukushima waren in Japan sämtliche Atomreaktoren heruntergefahren worden. Für rund zwei Monate, zwischen Mai und Juli vergangenen Jahres, war die drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt völlig frei von Atomstrom. Gegenwärtig sind von den 50 Reaktoren im Land zwei in Betrieb.

Im September 2012 verkündete Abes Vorgänger Yoshihiko Noda, Japan werde bis Ende der 2030er Jahre ganz aus der Atomenergie aussteigen. Doch dann erlitt Nodas Partei bei den Unterhauswahlen eine verheerende Niederlage. Abes Liberaldemokratische Partei kehrte an die Macht zurück. Jene LDP, die verantwortlich für eine Atompolitik ist, durch die jahrzehntelang Sicherheitsfragen wie in Fukushima vernachlässigt worden waren.

Die Entscheidung, wann die Atomreaktoren im Lande wieder angefahren werden, will Abe auf Grundlage neuer Sicherheitsstandards treffen. Vor dem Unglück in Fukushima hatten solche Sicherheitsuntersuchungen den AKWs stets bescheinigt, die sichersten der Welt zu sein. Die künftigen Standards, die die neue Atomaufsichtsbehörde im Juli dieses Jahres in Kraft setzen will, sollen die striktesten der Welt sein, heißt es nun.

Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi vor der Katastrophe

(Bild: Tepco)

Die Anti-Atom-Aktivisten im Lande hoffen derweil, die seit Fukushima in der Bevölkerung gewachsene Ablehnung gegenüber der Atomenergie aufrechterhalten zu können. Seit März vergangenen Jahres demonstrieren sie jeden Freitag vor dem Sitz des Ministerpräsidenten. Als sich die Vorgängerregierung anschickte, die Oi-Reaktoren wieder hochzufahren, schwoll die Zahl der Demonstranten von 300 auf 200.000 an. Jetzt, da die LDP wieder an der Macht ist, sind es jedoch längst nicht mehr so viele.

Unterdessen wurde bekannt, dass die Zahl der künftigen Krebserkrankungen in Japan möglicherweise deutlich höher ist als erwartet. Das geht aus neuen Berechnungen der Organisation "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW) hervor (PDF-Datei). "Drei verschiedenen Abschätzungen und neuesten Erkenntnissen zufolge wird es allein durch die äußere Strahlenbelastung 40.000 bis 80.000 zusätzliche Krebsfälle geben", sagte der Arzt Henrik Paulitz am Mittwoch in Berlin. Außerdem erwarten die Mediziner noch gut 37.000 zusätzliche Krebserkrankungen durch strahlenbelastete Nahrungsmittel.

Unter anderem die Auswirkungen auf Ungeborene, Babys und Kleinkinder seien bislang dramatisch unterschätzt worden, kritisierten die Ärzte. Dies gelte auch für die jüngst von der Weltgesundheitsorganisation WHO vorgelegte Prognose. Dort wird von einem nur "leicht erhöhtem Krebsrisiko" gesprochen, ohne jedoch absolute Zahlen zu nennen. Als besonders erschreckend bezeichnet IPPNW die jüngsten Zahlen über Schilddrüsenzysten und -knoten bei mehr als 55.000 Kindern allein in der Präfektur Fukushima. Bei Kindern seien derartige Schilddrüsenveränderungen als "Krebsvorstufen" anzusehen, diese Zahlen spiegelten nur die Situation in einer von insgesamt 47 japanischen Präfekturen wider.

In Deutschland war das Atomunglück Hintergrund für eine Kehrtwende der Bundesregierung in Bezug auf den Atomausstieg. Bis 2022 soll hierzulande das letzte Atomkraftwerk stillgelegt werden. Dagegen hält beispielsweise in Polen, im Baltikum, in Tschechien und der Slowakei die Politik an ihren Atomplänen fest – gegen teilweise deutliches Unbehagen in der Bevölkerung.

Die Litauer etwa bezogen in einer Volksabstimmung im Oktober 2012 klar Stellung: Fast 63 Prozent der Wahlberechtigten sprachen sich gegen den Bau eines Atomkraftwerks in der litauischen Stadt Visaginas aus. Das Ergebnis ist aber rechtlich nicht bindend und so will Litauen bis 2022 gemeinsam mit Estland und Lettland einen 1300-Megawatt-Reaktor errichten. Die baltischen Staaten wollen damit unabhängiger von russischen Energieimporten zu werden.

2020 soll der erste Block eines polnischen Atomkraftwerks voraussichtlich in Nordwestpolen ans Netz gehen. Bis 2035 sollen zwei Reaktoren insgesamt 6000 Megawatt Atomstrom produzieren. Derzeit laufen die Standortuntersuchungen. In den betroffenen Orten wächst die Unruhe – und nicht nur dort. Denn Gąski, Choczewo und Żarnowiec, in denen der Kraftwerksbau angepeilt wird, liegen alle in der Nähe der deutschen Grenze. Die Länder Berlin und Brandenburg haben in Warschau bereits ihre Bedenken geäußert, in einem Referendum vor Ort siegten die Kraftwerksgegner, aber auch hier ohne rechtliche Auswirkungen.

In Tschechien verpufft das Reizwort Fukushima bereits wieder. In dem Binnenland drohe kein Tsunami, argumentieren etwa Prager Regierungspolitiker immer wieder, wenn es um die Sicherheit ihrer Atomanlagen in Dukovany und Temelín geht. Das südböhmische AKW Temelín soll bis 2025 um einen dritten und vierten Reaktorblock erweitert werden. Seit der ersten Kettenreaktion im Dezember 2000 steht das AKW nahe der Grenze zu Deutschland und der zu Österreich wegen zahlreicher technischer Störungen in der Kritik.

In der traditionell atomenergiefreundlichen Slowakei steht nicht der geplante Ausbau der Atomkraft zur Debatte, sondern warum er sich verzögert. Die italienische Betreiberfirma Enel hatte nämlich schon für 2012/13 die Inbetriebnahme eines dritten und vierten Blocks des Atomkraftwerks Mochovce versprochen. Stattdessen kann sie jetzt für frühestens 2017 die Fertigstellung garantieren. Als Grund nannte Enel die seit der Fukushima-Katastrophe gestiegenen Sicherheitsanforderungen, die zusätzliche Baumaßnahmen erforderten. An den grundsätzlichen Ausbauplänen ändert das nichts.

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

Zu den technischen Hintergründen der in Fukushima eingesetzten Reaktoren und zu den Vorgängen nach dem Beben siehe:

  • Roboter und die Katastrophe in Japan
  • Lesen in den Isotopen, Spaltprodukte aus dem AKW Fukushima I finden sich inzwischen in aller Welt und erlauben Forschern neue Einblicke in den GAU in Fernost
  • Die unsichtbare Gefahr, Technology Review ordnet die Strahlenbelastungen im AKW Fukushima Daiichi und seiner Umgebung ein
  • Japan und seine AKW, Hintergrund zu den japanischen Atomanlagen und zum Ablauf der Ereignisse nach dem Erdbeben in Telepolis
  • Der Alptraum von Fukushima, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur Erschütterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".
  • 15 Meiler um eine Stadt, Martin Kölling berichtet direkt aus Japan: Atomingenieure in Tsuruga, der Stadt mit der höchsten Reaktorendichte der Welt, gruseln sich vor dem GAU in Fukushima
  • Mobilisierung im Netz: Auch in der Katastrophenhilfe ist das Internet zu einem mächtigen Instrument geworden, auf Technology Review

(mit Material von dpa) / (mho)