Kommentar Verkehrssicherheit: Zum Glück gezwungen

Trotz Rekordzahlen bei zugelassenen Autos und gefahrenen Kilometern fahren wir heute sicherer denn je. Das liegt an Menschen, die sich diese Welt vorstellten.

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Zum Glück gezwungen
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Fortschritt ist eine seltsame Kreatur, eine Art Antivampir, denn wir können sie praktisch nur im Rückspiegel sehen. Ansonsten sehen wir nichts, obwohl wir meistens mittendrin stehen. Ach, früher, das war noch schön, als Autofahrer noch Autofahrer waren. Wir denken an romantische Nächte mit dem Opel Kadett B. Wir blenden aus, wie viele Menschen damals noch in Autos starben. Wir blenden auch aus, wer für den Fortschritt maßgeblich verantwortlich zeichnet. Wir waren doch eigentlich immer dafür. Oder?

Die statistische Antwort lautet: Nein. Die Masse war selten für die Dinge, die sie kurz darauf als neue Selbstverständlichkeit genoss. Im Mittelalter war das Brechen auf dem Rad ein Schauspiel, das den drögen Alltag unterbrach. Es schien einer Mehrheit nur gerecht, wenn ein Sünder eine grausame Strafe erhielt. Dieser Gedanke hält sich bis heute: Die Bevölkerung befürwortet in Umfragen drakonische Strafen für schlimme Verbrechen, denn sie kann sich selbst nach Generationen des Rechtsstaatslebens nur schwer vom Rachegedanken lösen. Wer einen Menschen erschlägt, soll am besten selber auch erschlagen werden. Vielleicht auch auf dem Rad gebrochen. Es war nicht ALLES schlecht damals.

Nein, die zivilisatorischen Errungenschaften, in die Kinder heute hineingeboren werden, stammen nicht aus der Masse, sondern sie stammen von einigen wenigen Vordenkern, die sich eine andere Welt vorstellen können. Eine Welt mit viel weniger Hunger. Eine Welt mit viel weniger Kindersterblichkeit. Eine Welt, in der mehr Menschen an Überernährung sterben als an Unterernährung. Eine Welt mit viel weniger Verkehrstoten. Kurz: unsere heutige Welt.

Das Experimenta-Sicherheitsfahrzeug von Mercedes 1971. Es sah seltsam aus, doch viele sperrige Ideen schafften es modifiziert in die Serie.

(Bild: Daimler)

Ein interessanter Aspekt dieser Vorhut scheint mir, wie viel Selbstbewusstsein sie stets hatte. Die Vordenker der Aufklärung wurden zu ihrer Zeit belächelt. Der Krieg galt damals als tugendhafte Kunst, die den Charakter der Nationen stärkte. Und dennoch haben die Kriegsromantiker heute nichts mehr zu melden, während die Ideale der Aufklärung uns so selbstverständlich scheinen, wie dem damaligen Menschen die Romantik des Kriegswesens.

Wir haben es hier natürlich mit Beispielen von Survivorship Bias zu tun. Die Kriegsromantiker waren sich in keiner Weise weniger sicher darüber, recht zu behalten. Doch manche Ideen setzen sich durch, manche bleiben auf der Strecke, und am Ende zeigt sich, dass der geschätzte Kollege Christoph Schwarzer richtig liegt, wenn er an die „Intelligenz der Masse“ glaubt: Die zunächst ungeliebte Idee, oft freundet sich die Masse erstaunlich eng mit ihr an, wenn sie feststellt, dass ihr daraus ein Vorteil erwächst. Die Kriegsromantik bot nur Wenigen langfristige Vorteile. Für die Masse war Krieg eine existenziell bedrohlich teure Scheußlichkeit. Frieden dagegen machte uns reich, gebildet, gesund und insgesamt entweder erfüllter oder glücklicher, je nach Lebensausrichtung. Und ähnlich schaut es mit der Verkehrssicherheit aus.

Der Straßenverkehr bietet uns ein wunderbares virtuelles Diorama dieses Effekts, weil sich dort in so kurzer Zeit so viele Verbesserungen ereigneten, dass sich viele von uns gut an die schlechten alten Zeiten erinnern. Meine prägendste Erinnerung an Autos der Kindheit ist die an Gestank. Wenn ich ein Auto oder Motorrad hörte, holte ich tief Luft, damit ich diese anhalten konnte, bis die schlimmste Gestankintensität wieder schwand. Wir lebten auf einem 200-Seelen-Kaff, da war das möglich. Stadtausflüge waren für mich oft anstrengend, weil es nirgendwo entlang der Straßen frische Luft gab. Das ist heute viel besser geworden. Die Stadtluft wird getestet. Es gibt strenge Vorgaben, gerade an Autos.

Beliebt war die Idee der Abgasnachbehandlung jedoch nicht. Sie kam nicht von den Herstellern oder der Autofahrermasse, sondern sie kam von Forschern, die den Smog beklagten. Der Kunde, der das bezahlen musste, war auch kein Freund von Mehrausgaben für die Umwelt. Heute bemerkt er gar nicht mehr, dass diese Umwelt hauptsächlich er selber ist: Autofahrer atmen trotz Innenraumfilter die meisten Abgase ein, weil sie ja direkt im Verkehr sitzen. Sie profitieren damit am direktesten von Verbesserungen der Straßenluft.

Einstieg ins alte Experimental-Sicherheitsfahrzeug. Gurte gab es schon, doch sie wurden trotz ihrer Wirksamkeit nicht angelegt. Deshalb erdachten die Ingenieure ein System, bei dem der Gurt immer angelegt war. Setzte sich nicht durch, doch ich hoffe immer noch auf eine Zukunft, in der sich der Gurt automatisch anlegt, wenn ich mich ins Fahrzeug setze und starte.

(Bild: Clemens Gleich)

Genauso sieht es im Segment Sicherheit aus. Die Älteren mögen sich mit mir an die Einführung der Gurtpflicht erinnern. Seit dem 1. Januar 1976 müssen sich Autofahrer in Deutschland anschnallen (zunächst nur vorne). Obwohl schon damals in Umfragen eine große Mehrheit einsah, dass der Gurt rein technisch bei einem Unfall hilft, tobte ein Kampf um die Gurtpflicht, der kaum noch etwas mit der Sache Sicherheit zu tun hatte, wohl aber mit allem anderen, was man sich vorstellen konnte. Der Gurt drückt Brüste außer Form. Den Gurt brauchte ich früher auch nicht. Der Gurt verweichlicht uns. Der Gurt fesselt mich ans Auto, da kann ich nach dem Unfall nicht raus. Die Erwiderung der Sicherheitsforscher: „Ohne Gurt steigst du nach einem Unfall selten selber aus.“ Selbstverfreilich war schon damals der Klassiker dabei: Der Gurt schränkt meine Freiheit ein.