Kommentar Verkehrssicherheit: Zum Glück gezwungen

Seite 2: Backpfeifen für Libertäre

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Das stimmt. Jede Regel schränkt Freiheiten ein. Eine Regel definiert sich implizit aus Freiheitseinschränkungen. Der Staat schränkt zum Wohl der Gemeinschaft meine Freiheit ein, allen Schnieptröten der Republik ein paar aus meiner Sicht wohlverdiente Backpfeifen zu verpassen. Das ist ganz gut so. Selbst überzeugte Libertäre wünschen sich zwar den Minimalstaat, aber keine echte Anarchie, weil ich in der jederzeit das Küchenfenster einschlagen könnte, um ihnen mit Armen wie Scherbenkakteen ihre Backpfeifen zu servieren. Es wäre eine anstrengende Welt der maximalen lokalen Aufrüstung. Wir brauchen Menschen, die sich Dynamiken neuer Regeln oder Technologien in der Gesellschaft vorstellen können. Ihre Ideen nimmt die Masse dann schon an. Es dauert nur ein bisschen.

These: Diese ganzen Menschen mit Zeigefingerpriapismus, die ganzen Nerver, die uns ermahnen, das zu tun, von dem wir prinzipiell wissen, dass wir es tun sollten, aber keine Lust haben, vielleicht brauchen wir schlicht einen guten Schuss von denen. Ich erinnere mich lebhaft an das Thema ABS im Motorrad. Die Diskussionen waren fast wie bei der Gurtpflicht. "Wer nicht bremsen kann, soll doch am besten kein Motorrad fahren. Wer das braucht, um den ist es nicht schad. Gut: TOURENfahrer vielleicht, aber NORMALE Motorradfahrer kommen sehr gut ohne aus."

Ich bremse auf einem Ausleger-Motorrad mit und ohne ABS durch eine Schotterspur. Das sagt einem weniger über die Nützlichkeit es ABS als die Schreckbremsung am Ende eines langen Tages auf Tour. Wahrscheinlich waren deshalb die Tourenfahrer ABS-Vorreiter.

(Bild: Irina Gorodnyakova)

Doch die Zeigefingerbrigade, die Ingenieure, die Politik, sie ließen alle nicht locker. Erste Zugeständnisse tauchten auf: "Ok, FAHRSCHUL-Motorräder können ja ruhig ein ABS kriegen. Und dann können auch Einsteiger diese Modelle fahren, vielleicht zusammen mit den Tourenfahrern, die das ja zu akzeptieren scheinen. Für mich Sportfahrer-As natürlich nichts, aber …" Und so, Schritt für Schritt, eroberte das ABS die Motorradwelt, bis sich Modelle ohne dieses Feature in Deutschland nicht mehr verkaufen ließen.

Das letzte Rückzugsgefecht fand auf dem Gebiet der Superbikes statt. "Diese für den Rennstreckengebrauch optimierten Maschinen, tja, da funktioniert ein ABS eben nicht, zu schwierig, zu extrem, das Superbike ist nur was für ECHTE …" und so weiter. Doch schließlich brachten sowohl Honda als auch BMW (beides Vorreiter in Sachen Einspur-Sicherheitstechnik) Superbikes mit ABS heraus. Hondas Fireblade gab es kurze Zeit mit und ohne ABS. Als das Modell mit verfügbar war, waren die verbliebenen Fireblades ohne ABS kaum noch zu verkaufen. Der letzte Gesinnungswandel wechselte über Nacht von „Superbikes haben kein ABS und brauchen keins“ zu „ich kaufe nur noch Motorräder mit ABS, Superbike hin oder her“.

Honda Deutschland importierte kurz darauf keine Motorräder ohne ABS mehr in die BRD, denn „die ABS-Kaufquote liegt bei praktisch 100 Prozent“. Trotz Sicherheits-Vorreiterrolle hatte Honda nämlich vorher immer noch die Option offengelassen, jedes Modell auch ohne ABS zu bestellen. Das war lieb gemeint, eine Kundenfreiheit, die kein Kunde nutzte. Bald danach wurde ABS ohnehin gesetzlich vorgeschrieben. Heute redet kein Mensch mehr darüber. Im Gegenteil hört man Stimmen vorschlagen, das ABS selbst auf Rennmaschinen eingebaut zu lassen, um überbremste Vorderräder aus Bremshebel-Berührungen zu verhindern. Der Hobby-Racer lässt es ohnehin meist eingeschaltet.

An diese Anekdoten und die dazugehörigen statistischen Daten denke ich gelegentlich, wenn mich ein neues Sicherheitssystem wieder nervt. Natürlich werden sich die Nerver nicht durchsetzen. Ich habe frühe Motorrad-ABS getestet, die so seltsam funktionierten, dass sie netto gefährlich waren. Aber die nicht nervenden, besser funktionierenden Nachfolger werden irgendwann selbstverständlich werden. Wenn ich Autos sehe, die wider den Willen ihrer Besitzer für Fußgänger, Fahrradfahrer oder Motorradfahrer bremsen, dann denke ich nicht zuerst „das schränkt des Fahrers Freiheit jetzt aber brutal ein“, sondern „ach, so langsam läuft die Technik. Gut so!“.

Die wirksamsten Sicherheitsideen sind schon umgesetzt. Das heißt nicht, dass es keine neuen Ideen gibt. Viele der Ideen im ESF 2019 sind schon nah am Serienbau.

(Bild: Daimler)

Ich halte es in ferner Zukunft für technisch möglich, dass nur noch eine Handvoll Menschen pro Jahr bei Verkehrsunfällen sterben, und wichtiger: Ich halte das für ein anpeilenswertes Ziel. Wenn ich diese Zukunft erlebe, bin ich mir sicher, dass ihre Bewohner viel zu motzen haben über den Fortschritt, der ihre Leben, ihre Seelen, ihre Intelligenz koste. Dann erzähle ich ihnen, dass allein Deutschland in den Siebzigern über 20.000 Verkehrstote pro Jahr beklagte. Und dass wir uns trotzdem nicht anschnallen wollten. Und dass wir 2019 immer noch Verkehrstote wegen Nichtanschnallens hatten. Wahrscheinlich werden sie akute Bleivergiftung aus Abgasen vermuten. Aber sie werden dennoch glauben, ihre Welt rase auf den Abgrund zu, denn das glaubten bisher alle Generationen von Menschen, die nach vorne schauten. Schauen wir ab und zu in den Rückspiegel, wie es unsere Fahrlehrer rieten. Das ver-sichert ungemein.

(cgl)