Geoengineering: 175.000 Flüge, um die Polkappen abzukühlen

Neue Flugzeuge, Anzahl von Flügen: Forscher haben nun genau berechnet, was nötig ist, um Schwefeldioxid-Aerosole über den Polen zu verteilen – für den Notfall.

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(Bild: rhfletcher/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

In der Arktis steigen die Temperaturen viermal schneller als auf der übrigen Erde, wie finnische Forscher jüngst in "Nature Communications Earth & Environment" berichteten. Und eine "unfassbare Hitzewelle" suchte die Antarktis Anfang des Jahres heim, wie Markus Rex, Bereichsleiter für Atmosphärenphysik am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, im "Deutschlandfunk" sagte. Statt der üblichen März-Temperaturen von um die minus 53 Grad war es mit minus 18 Grad exorbitante 35 Grad wärmer. Die Klimakatastrophe nähert sich offenbar mit größeren Schritten als gedacht, wie auch aktuelle Forschungsergebnisse zu Kipppunkten zeigen.

Für den Fall, dass die Erderwärmung eines Tages wirklich völlig aus dem Ruder laufen sollte, suchen Forscher schon seit längerem nach Lösungen, wie sich die Erdtemperatur im Notfall stabilisieren ließe. Dass dieses Geoengineering lediglich die Behandlung der Symptome des Klimawandels und keine dauerhafte Lösung ist, ist ihnen dabei durchaus bewusst.

So hat ein Team um den Klimaforscher Wake Smith von der Yale Universität in New Haven ein neues Not-Programm entwickelt. Es soll wirklich machbar und auch billiger sein, als alle bisher vorgeschlagenen Geoengineering-Methoden. Die Forscher überlegten sich, dass es reichen könnte, die Erde nur regional dort abzuschatten, wo schmelzendes Eis am dramatischsten zum Anstieg des Meeresspiegels führt. Wenn nämlich die Polarregionen kühler würden, würde sich das auf die ganze Erde auswirken, schreiben sie in "Environmental Research Communications".

Der Plan: Jenseits der 60. Breitengrade Nord und Süd solle in 13 Kilometern Höhe Schwefeldioxid aus Flugzeugen versprüht werden, um Aerosole zu erzeugen. Es genüge, solche Aktionen nur während des lokalen Frühlings und Frühsommers durchzuführen, weil es während der dunklen Jahreszeiten sowieso kalt ist. Beide Hemisphären könnten dann von derselben Fliegerflotte bedient werden, die mit dem Wechsel der Jahreszeiten zum jeweils anderen Pol fliegt.

Das Prinzip solcher stratosphärischen Aerosol-Injektion (SAI) geht auf die Überlegung des vor einem Jahr verstorbenen Nobelpreisträgers und Atmosphärenchemikers Paul Crutzen zurück, der allerdings auch vor den ökologischen, rechtlichen, ethischen und gesellschaftlichen Problemen eines solchen Unterfangens warnte.

Schwefeldioxid oxidiert nämlich in der unteren Stratosphäre mit der dort vorhandenen Luftfeuchtigkeit zu Schwefelsäure. Innerhalb eines Monats koaguliert die Säure dann zu flüssigen, unterkühlten Aerosolpartikeln.

Die Wolken dieser Partikel fungieren als gigantische Strahlungsblocker und könnten nach Berechnungen der Autoren die Temperatur in den Polarregionen um zwei Grad senken. Das würde reichen, um die Eisschmelze auf Grönland, den arktischen Inseln und in der Antarktis zu stoppen. Dann könnten der Meeresspiegelanstieg durch Gletscherschmelzen und die Wärmeausdehnung des Meerwasser eine Pause einlegen.

Doch die Sache hat einen gewaltigen Haken: Die derzeit verfügbaren Tankflugzeuge würden nämlich nicht ausreichen, die nötige Aerosolmenge im Bereich der Tropopause freizusetzen. Nicht einmal die bisher vom Militär genutzten Tankflugzeuge Boeing KC-135 Stratotanker, dessen Nachfolger Boeing KC-46 Pegasus und der Airbus A330 MMRT-Tanker schaffen es, genügend Schwefeldioxid-Nutzlast in die untere Stratosphäre zu bringen.

Es müssten also neue Flugzeuge her. Den Bauplan dafür liefern die Forscher in ihrer Publikation unter dem Namen SAIL-43K gleich mit. Das ist die Variante des Konzeptflugzeugs SAIL-O1, das Donald C. Bingaman von VPE Aerospace Consulting vor zwei Jahren in St. Louis, Missouri, vorstellte. Es ist von vornherein dafür konzipiert, umfangreiche Lasten in große Höhen zu tragen.

Konzept des Flugzeugs SAIL-43K.

(Bild: Wake Smith et al.)

Von dieser Flugzeugart müssten aber auch gleich 125 Stück gebaut werden, die dann in jedem Jahr um die 175.000 Flüge absolvieren, was zwei Tagen des weltweiten kommerziellen Flugverkehrs vor der Corona-Pandemie entspricht. Jeder Flug würde nur gut eine Stunde dauern: 30 Minuten Steigflug, zwei Minuten für die Leerung der Schwefeldioxid-Tanks und 30 Minuten Sinkflug. Jeder dieser Jets müsste sechsmal am Tag aufsteigen. Das führt allerdings zu zusätzlichen CO2-Emissionen und erzeugt klimawirksame Kondensstreifen, die durch mehr Aerosole kompensiert werden müssen. Die Wirkung der Aerosole dauert über die paar Sommermonate an. Sobald man mit den Flügen aufhört, geht die Eisschmelze weiter.

Zehn Milliarden Euro pro Jahr würde eine solche Notbremse kosten, so die Berechnungen. Also nicht höher als der Preis für den Wiederaufbau Pakistans nach der sommerlichen Flutkatastrophe. Das wäre auch ein Drittel weniger als das, was für eine flächendeckende Schwefeldioxid-Injektion für dieselbe Temperatursenkung nötig wäre. Und nur einen winziger Bruchteil der industriellen und energetischen Umbaukosten, um zu einer Netto-Null-Emissionen-Wirtschaft zu kommen.

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Doch Smith ist völlig klar: "Die stratosphärischen Aerosol-Injektionen behandeln lediglich ein Symptom des Klimawandels, nicht aber die zugrunde liegende Krankheit. Es ist Aspirin, kein Penicillin. Es ist kein Ersatz für die Dekarbonisierung."

Allerdings muss auch am Boden investiert werden. Denn selbst die nördlichen Flughäfen in Oslo, Stockholm, Helsinki, Sankt Petersburg und Anchorage müsste man so aufrüsten, dass sie mehr als 110 Flüge pro Stunde während eines dreizehnstündigen Betriebstages bewältigen können. Im Süden berührt der 60. Breitengrad dagegen nirgendwo Land. Die nächstgelegenen größeren Flugplätze in Puerto Williams und Punta Arenas in Chile und in Ushuaia in Argentinien sind nicht nur kleiner, sie liegen auch zwischen 53 und 55 Grad südlicher Breite. Dort liegt die Tropopause etwas höher, so dass die Flugzeuge weiter aufsteigen und längere Strecken fliegen müssten.

Doch selbst die Autoren glauben nicht so recht an die Verwirklichung ihres Plans. "Ein subpolarer Einsatz dürfte die enormen Herausforderungen für die Steuerung und Kontrolle kaum umschiffen können", schreiben sie. Aber immerhin liegt ihre Option jetzt für den absoluten Notfall in einer Schublade.

(jle)