SPD-Dialog: Mehr öffentliche Wertschöpfung im Internet wagen

Ein Rechtswissenschaftler plädierte auf einem SPD-Forum dafür, den Primat des Ökonomischen in digitalen Räumen zu brechen. SPD-Chefin Esken ist ganz dafür.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 24 Kommentare lesen

(Bild: jamesteohart/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Nach all den Debatten über Hass und Hetze im Netz, Cyberkrieg sowie Desinformation fordert der österreichische Rechtswissenschaftler Matthias Kettemann die Rückkehr zu einer positiveren Sicht auf das Online-Medium. Das Internet müsse ausgerichtet werden auf "mehr öffentliche Wertschöpfung", erklärte der Forscher am Freitag bei einer Dialogveranstaltung der SPD-Bundestagsfraktion zu Menschenrechten. Dafür sei es nötig, den aktuellen "Primat des Ökonomischen in digitalen Räumen" zu begrenzen und die Position des Menschen zu stärken.

Entscheidend sei es etwa, öffentliche Dienstleistungen im Netz neu zu denken, forderte der Wissenschaftler, der unter anderem in Innsbruck, Berlin und Hamburg tätig ist. In der netzpolitischen Debatte dürfe etwa der Datenschutz nicht nur als Abwehrrecht des Einzelnen gegen staatliche und wirtschaftliche Übergriffe gesehen werden. Vielmehr sollten gemeinschaftliche Datenräume ("Data Commons") im Vordergrund stehen.

Auch eine "Sozialisierung kommunikativer Ressourcen" sei angebracht, hob Kettemann hervor. Momentan würden zu viele Online-Räume von privaten Akteuren gehalten. Dies müsse etwa beim Metaverse, das vor allem die Facebook-Mutter Meta den Massen schmackhaft machen will, und bei Quantentechnologien von Anfang an verhindert werden.

Die EU sieht der Internetrechtler bei der Gestaltung des Cyberspace etwa mit den Plattformgesetzen Digital Services Act (DSA) und Digital Markets Act (DMA) dem auf einem guten Weg: "Europa setzt einfach die besten digitalen Regeln weltweit." Die USA und China hätten dafür aktuell nicht die erforderliche "normative Autorität". Ein "mutiger" europäischer rechtlicher Ansatz sei korrekt, aber auch hier müssten die Gesetzgeber noch nachschärfen beim Fokus auf öffentliche Räume gemäß dem Motto: "Wir holen uns mühsam die Bestimmungsmacht zurück." Das Schlagwort der digitalen Souveränität sei nicht schlecht, da es auch auf eine geteilte Verantwortung anspiele.

Auf UN-Ebene gebe es noch keinen globalen Vertrag für das Internet, berichtete Kettemann. Mehrere Komitees der Vereinten Nationen erzielten aber "regelmäßig Fortschritte bei Cyber-Normen". So gebe es ein grundsätzlich geteiltes Verständnis, mehr für Cybersicherheit zu tun. Dazu komme etwa die Zusicherung, dass nicht von eigenem Territorium Angriffe auf andere Staaten ausgelöst werden. Alle hielten sich zwar nicht daran, aber das sei dann eben ein Fall für das Völkerrecht.

SPD-Chefin Saskia Esken sieht die Sache ähnlich: "Wir müssen uns das Netz zurückholen", gab sie als Parole aus. Ursprünglicher Kerngedanke des Internets sei die Emanzipation des Menschen durch den Zugang zum Wissen dieser Welt gewesen. Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg sollte im Vordergrund stehen. Gekommen seien Verschwörungsmythen und Bedrohungen für die Gesellschaft, denn vor allem "die Kapitalverwertung hat das Netz kaputtgemacht".

Autokratische Staaten unterdrückten mittels digitaler Technologien ihre Bevölkerung, führte die gelernte Informatikerin aus. Dabei gab sie zu bedenken, dass im Westen entwickelte Instrumente wie Staatstrojaner "woanders als Waffe gegen das eigene Volk eingesetzt werden" könnten. Auch die Europäer müssten sich verteidigen gegen Tracking, Datensammelwut und "Deepfakes mit schlimmsten Konsequenzen". Gegen solche manipulativen Bilder sollten die EU-Staaten mit der geplanten Verordnung für Künstliche Intelligenz (KI) strafrechtlich vorgehen.

Da soziale Netzwerke sich "unerfreulich" entwickelt hätten und die Meinungsfreiheit sowie die Privatsphäre unzureichend schützten, warb Esken dafür, Werkzeuge für Kommunikation und Kollaboration demokratisch zu organisieren. Bestehende Plattformen sollten zwar nicht verstaatlicht werden, möglicherweise seien aber sogar öffentlich-rechtliche Alternativen nötig. Der freie, uneingeschränkte und demokratische Zugang zu digitalen Technologien sollte ein Menschenrecht sein. Die SPD müsse hier Haltung zeigen und deutlich machen, sie stehe für sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und weise die von der EU-Kommission verlangte Chatkontrolle zurück.

Wasser in den Wein tröpfelte Julia Pohle, Expertin für die Politik der Digitalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Sie warnte, dass die EU mit ihrer ambitionierten, aber zugleich recht kleinteiligen Internetregulierung "den Geist aus der Flasche" hole, "den wir nicht mehr einfangen können". Das Vorpreschen könne dazu führen, dass auch andere Länder ihre normativen Vorstellungen durchsetzen wollten, die inkompatibel mit den europäischen Werten seien.

Sie sehe zwar keine Gefahr, dass das Internet "global auseinanderfällt mit inkompatiblem Netzen", gab die Forscherin etwas Entwarnung in der Diskussion über ein "Splinternet". Es drohe aber eine "regulatorische Fragmentierung", seit spätestens mit den Snowden-Enthüllungen 2013 die US-amerikanische neoliberale Perspektive auf das Netz verstärkt auch von der EU in Frage gestellt werde. Mit dem Anspruch auf digitale Souveränität trage Europa zur Zersplitterung bei, da der Begriff auch mit Kontrolle und Hoheitsmacht verbunden sei.

Einen Einblick, wie lupenreine Demokratien mit dem Internet umgehen, gab Alexey Yusupov, Leiter des Russland-Programms der Friedrich-Ebert-Stiftung. In Moskau hat ihm zufolge die Geschichte der Repression im Netz mit dem Arabischem Frühling begonnen. Damals sei im Kreml das Gefühl erwachsen, dass digitale Technologien ein Problem sein könnten. Seit 2019 würden die Kabel, die das Land verlassen, registriert, um im Bedarfsfall eine direkte technische Kontrolle darüber ausüben zu können.

Parallel sei eine flächendeckende Installation von Überwachungstechnik mit Deep Packet Inspection (DPI) aus Israel, den USA und China erfolgt, legte Yusupov dar. Diese werde für systematische Zensur genutzt, wobei derzeit aktiv etwa eine Million Webseiten blockiert seien und täglich zehntausende dazukämen. Im Inneren werde ferner getrollt und manipuliert, etwa über Online-Konten von Geheimdiensten.

Letztlich wirken sich dem Russlandbeobachter zufolge auch Sanktionen gegen westliche Unternehmen nach und nach aus. Über YouTube etwa könnten Oppositionelle keine Werbeeinnahmen mehr erzielen, Cache-Server vor Ort würden ausgeschaltet, was Streaming schwieriger mache. Andererseits bleibe das Internet der Raum der Freiheit, in dem sich derzeit etwa der "Kriegsuntergrund" organisiere und der Austausch mit Exil-Russen stattfinde.

(bme)