Unterhaltungs-, Propaganda-, Informationsmedium: 100 Jahre Radio in Deutschland​

Die jüngere deutsche Geschichte ist wechselvoll – und sie beeinflusst die des Radios massiv. Eine Rückschau und Bilanz zum 100. Geburtstag.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 103 Kommentare lesen
A,Variety,Of,Vintage,Table,Top,Radios,Grouped,Together,On

(Bild: Shutterstock.com; Sandra Burm)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Karl-Gerhard Haas
Inhaltsverzeichnis

Von der Entdeckung eines Prinzips bis zu seiner praktischen Anwendung kann es lange dauern – so auch beim Radio, das in Deutschland jetzt seinen 100. Geburtstag feiert. So bemerkt der englische Wissenschaftler George Adams schon bei Versuchen zwischen 1780 und 1784, dass in einer Leydener Flasche entstehende Funken auf Leiter in der Nachbarschaft überschlagen. Die Theorie dazu liefert rund 80 Jahre später, 1864, der Schotte James Clerk Maxwell mit seinen Überlegungen zum Elektromagnetismus. Dass die Theorie stimmt, beweist der deutsche Physiker Heinrich Hertz 1886 – er erzeugt als Erster gezielt Überschläge von einem Funkeninduktor auf zwei durch einen Metallring verbundene Kugeln. Hertz schafft damit zwar die wesentlichen Voraussetzungen für den Rundfunk, wie wir ihn seit jetzt einem Jahrhundert kennen – er selbst realisiert den praktischen Wert seiner Forschung aber nicht.

Das tun andere Wissenschaftler und Tüftler, unter anderem in Italien, Indien, Russland und den USA. Der nach London übergesiedelte Italiener Marconi ahnt 1894 als erster das wirtschaftliche Potenzial der neuen Funktechnik, aber mit Radio hat das noch nichts zu tun. Zunächst lassen sich drahtlos nur Morsesignale übermitteln, also Binärcode.

Die erste drahtlose Tonübertragung wird dem in Kanada geborenen Erfinder Reginald Fessenden zugeschrieben: Im Herbst 1900 soll er Sprache über eine Distanz von 1,6 Kilometern gesendet haben. Der von Fessenden dazu entwickelte Wechselstromgenerator war schon ein Schritt in die richtige Richtung. Die "Sendung" war aber noch stark gestört, das Ergebnis weder anhör- noch brauchbar. Zur Weihnacht 1906 sendet Fessenden mit einem Maschinen- sowie einem Löschfunkensender erneut – mit immerhin annehmbarem Ergebnis.

Wirklich für die damaligen Verhältnisse anhörbar wird die Technik aber erst, als der US-amerikanische Erfinder Lee de Forest zu einem Lichtbogensender greift. Im Februar 1907 strahlt de Forest Telharmonium-Musik aus, im weiteren Verlauf des Jahres einen direkten Bericht von einer Regatta sowie Gesang.

Während des Ersten Weltkriegs nutzen die Militärs aller Kriegsparteien die neue Technik. An Unterhaltung ist erst wieder im Frieden zu denken. Am 6. November 1919 nimmt im niederländischen Den Haag der Unterhaltungssender PCGG den Betrieb auf. 1920 dudelt es erstmals im Äther Argentiniens und der USA. Deutschland muss sich wegen des Versailler Vertrags zurückhalten: Offiziell dürfen die Bürger des Reichs nicht mal Radio hören, geschweige denn senden. Dennoch experimentiert Hans Bredow bereits im Juni 1920 vom Funkerberg in Königs Wusterhausen bei Berlin aus. Von dort wird – schwarz – zum Jahresende das erste Radio-Weihnachtskonzert Deutschlands gesendet.

Funkerberg-Museum (7 Bilder)

Zu sehen ist der Lichtbogensender, mit dem am 22. Dezember 1920 das Weihnachtskonzert als erste Rundfunksendung in Deutschland gesendet wurde. Der hintere der beiden Herren ist Erich Schwarzkopf, der bei diesem Konzert maßgeblich beteiligt war. (Bild: Funkerberg-Museum)

Bredow ist später einer der führenden Köpfe, als es am 29. Oktober 1923 offiziell mit dem Radio in Deutschland losgeht. Aus dem Berliner Gebäude der Schallplattenfirma "Vox" in der Potsdamer Straße 4 (heute Nummer 10) verkündet Friedrich Georg Knöpfke (1874–1933) "Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter."

Fast auf den Tag ein Jahr zuvor ging in Großbritannien die British Broadcasting Corporation (BBC) auf Sendung – wie die meisten Radiosender dieser Zeit privatwirtschaftlich organisiert. In Deutschland sendet aus Berlin die Funkstunde AG, am 4. April 1924 nimmt als letzter der neun Sender des damaligen Reichsgebiets die Schlesische Funkstunde den Betrieb auf. Deren holpriger Start ist überliefert: Bei seinen warmen Worten zur Eröffnung verhaspelt sich der schlesische Oberpräsident Hermann Zimmer und murmelt mal von "schlesischer Funkstunke", schließlich "schlesischer Funkstunze" beziehungsweise "Stunkfunze".

Ab 1925 sind die regionalen Sender Teil der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft; die einzelnen Betreiber werden verpflichtet, 51 Prozent ihrer Unternehmensanteile sowie je drei Aufsichtsratsposten an Reichspostministerium, Reichs-Innenministerium und die "Deutsche Stunde" abzutreten. Gebühren kostete der "Hörrundfunk" schon zu seinem Start – hyperinflationsbedingt 350 Milliarden Mark, in etwas jüngeren Quellen ist gar von 780 Milliarden Mark pro Jahr die Rede. Fürs Inkasso war damals noch nicht die vor einigen Jahren zum "Beitragsservice" umetikettierte GEZ zuständig, sondern der Mitbetreiber Reichspost – der Vorgänger des Gilbs mischte also schon damals mit.

Live-Musik, Schallplatten – das Programm ist auf Unterhaltung ausgelegt, wozu auch klassische Musik zählt. Fast von Beginn an gehört das dazu, was man heute Comedy nennt: Bei der schlesischen Funkstunde heuert kurz nach deren Sendestart Ludwig Manfred Lommel an und reüssiert dort mit dem "Sender Runxendorf auf Welle 0,5". Dessen Scherzlein ("Und nun der Wetterbericht des meteorologischen Krematoriums!") waren schon zu ihrer Entstehungszeit schal. Aber Lommel spielte im Alleingang Hörspiele mit einem Dutzend Figuren, konnte die verrücktesten Geräusche imitieren und schuf mit Gestalten wie Paul und Pauline Neugebauer, Kutscher Herrmann, Kantor Stockschnupfen oder Rülps von Knüllrich liebenswerte Charaktere. Bald werden seine Schoten per Ringsendung in ganz Deutschland übertragen.

Mit dem Volksempfänger konnte man auch ausländische Radiosender hören. Die Nazis warnten davor.

Die 1923 verfügbare Technik ist bescheiden: Elektrische Tonabnehmer für Schallplattenspieler sind noch nicht erfunden. Sollen Wort oder Musik von der Scheibe erklingen, stellt man ein Mikrofon vor den Trichter eines Grammophons. Alternative: der in Deutschland entwickelte Tri-Ergon-Tonfilm. Erst 1935 stellt Telefunken mit dem Magnetophon genannten Tonbandgerät eine für die Bedürfnisse des Rundfunks brauchbare Alternative vor. So ist auch die originale Ansage von Friedrich Georg Knöpfke nicht erhalten, er sprach sie zehn Jahre später nach.

Auch auf der Hörerseite sind die Anfänge überaus primitiv – wenn auch energiesparend: Die Detektorempfänger speisen allein durch die eingefangene Sendeenergie einen Kopfhörer. Bald erscheinen aber auch Geräte mit Verstärker-Elektronenröhren und Lautsprechern. Schon vor Beginn des Unterhaltungsrundfunks werden die ersten Patente für die technisch überlegenen Superheterodyne-Empfänger ("Superhet"/Überlagerungsempfänger) erteilt – deren Prinzip setzt sich dann auch schnell durch. Ein Überblick über frühe Radios findet sich hier. Seitdem hat sich viel getan: Womit früher Dutzende Bauteile beschäftigt waren, das erledigt heute ein einziger integrierter Schaltkreis (IC).