Unterhaltungs-, Propaganda-, Informationsmedium: 100 Jahre Radio in Deutschland​

Seite 2: Fehler im System hilft Nazis

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Wer sich die Konstruktion der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft anschaut, könnte Parallelen zur ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland) ziehen. Der wesentliche Unterschied: Mit Reichspost- und Innenministerium sitzen zwei Behörden direkt in den beteiligten Sendern. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 hat der NS-Staat unmittelbaren Zugriff aufs damals populärste Massenmedium. Viele deutsche Rundfunkpioniere werden sofort nach dem Staatsstreich verhaftet, worauf Hans von Bredow an den Noch-Reichspräsidenten Hindenburg telegrafiert, er bitte um deren Freilassung oder dieselbe Behandlung. Daraufhin wird er festgenommen und sitzt 16 Monate im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit.

Die Nazis, die sich der Wirkung des Rundfunks für ihre Propaganda bewusst sind, wollen möglichst viele "Volksgenossen" mit ihren Lügen erreichen und nötigen die Industrie zum Bau vereinheitlichter, günstiger Radios – den "Volksempfängern", nach dem Propagandaminister auch Goebbels-Schnauze genannt. Deren Empfangseigenschaften reichen zwar nicht an die von aufwendigeren Geräten, dennoch ist es mit ihnen in vielen Gebieten des "Reichs" möglich, ausländische Sender zu hören. Deshalb warnt ein Schild am Volksempfänger davor.

Die Nazis fahren im von ihnen vereinnahmten Rundfunk alles an technischen Raffinessen auf, was die Zeit zu bieten hat: Dank des erwähnten Magnetophons gaukeln sie Live-Sendungen aus den okkupierten Gebieten vor, die "Wunschkonzerte für die Wehrmacht" sind das, was man heute Hit nennt – auch sie sind per Ringsendung auf deutschem und besetzten Gebiet zu hören. Den Briten gelingt 1943 mit dem "Soldatensender Calais" allerdings ebenfalls ein Coup: Fast bis zum Kriegsende funkt er gegen die Lügen des NS-Regimes an.

Der Zusammenbruch des "Tausendjährigen Reichs" beendet faktisch die Geschichte seiner Rundfunk-Gesellschaft – juristisch zieht sich deren Liquidation bis 1961. Mit der deutschen Teilung gehen auch die Radiosender in Ost und West getrennte Wege, 1945 eröffnen unter Aufsicht der Besatzungsmächte wieder die ersten Rundfunk-Stationen auf dem verbliebenen deutschen Boden. Im Westen gehen diese 1948 als Landesrundfunkanstalten des öffentlichen Rechts in deutsche Obhut über, am 9. Juni 1950 gründen diese damals sechs Sender die ARD.

Die Aufsicht haben in Deutschland bis 1955 und in Berlin bis 1958 allerdings die Siegermächte. Nicht immer lustiges Nachkriegskuriosum: Der damals noch sowjetzonale, später ostdeutsche "Berliner Rundfunk" sendet vom kaum beschädigten "Haus des Rundfunks" (später Sender Freies Berlin, heute Rundfunk Berlin-Brandenburg) an der Masurenallee, die im britischen Sektor der Stadt liegt – als russische Exklave. Nachdem dort mehrfach geflüchtete Ostdeutsche vorstellig und von den Sowjets festgenommen worden waren, stellt man Warnschilder auf.

Bis 1950 funken die Sowjets von dort, bis zur Übergabe an die westlichen Besatzer 1956 bauen sie die Technik ab und am neuen Standort in der Ost-Berliner Nalepastraße wieder auf. Über Berlin 1, 2 und 3, später Berliner Welle, entwickelt sich der dortige Staatsparteisender schließlich recht offen zur "Stimme der DDR". Neben dem offiziellen DDR-Funk unterhält der selbst ernannte Arbeiter- und Bauernstaat noch auf Mittelwelle vom 17. August 1956 bis zum 30. September 1971 den "Deutschen Freiheitssender 904" und vom 1. Oktober 1960 bis zum 1. Juli 1972 den "Deutschen Soldatensender". Geübte Ohren merken zwar schnell, aus welcher Richtung diese Funkwellen wehen, offiziell zu erkennen geben sich diese Stationen allerdings nicht. Aus dem Westen hingegen fechten Deutsche Welle und Deutschlandfunk mit offenem Visier.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit gibt es nicht nur in Deutschland wichtigere Dinge als die technische Qualität des Rundfunks. Zunächst werden hauptsächlich die verbliebenen Sender auf Lang-, Mittel- und Kurzwelle genutzt. Mit der 4. Europäischen Wellenkonferenz in Kopenhagen verliert Deutschland 1948 viele Mittel- und Langwellenfrequenzen – zum Glück: Ab 1949 in der BRD und 1950 in der DDR geht die qualitativ überlegene Ultrakurzwelle (UKW) auf Sendung.

1963 kommt Stereo hinzu – alle wesentlichen Parameter für UKW sind seitdem unverändert. Ein Nachteil von UKW ist allerdings, dass seine Signale nicht der Erdkrümmung folgen – wer nicht auf einem Berg wohnt oder aufwendige Richtantennen baut, hat kaum Chancen, Sender aus mehr als 150 Kilometern Entfernung aufzuschnappen. Das zementiert im Osten die Vorherrschaft des DDR-Staatsfunks, in der BRD die der öffentlich-rechtlichen Stationen – standortabhängig um die Truppensender der Alliierten ergänzt. Nur im äußersten Westen der Bundesrepublik gräbt auf UKW Radio Luxemburg (RTL) den Öffi-Sendern ein wenig das Wasser ab.

Ein klein wenig weiter südlich, aus dem damals autonomen Saarland, funkt ab dem 1. April 1955 der Privatsender Europe 1 als französischer Piratensender. Offiziell geht es mit Privatfunk auf westdeutschem Boden erst Mitte der 1980er los, auf dem Gebiet der DDR erst nach deren Ende.